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stinktiv klar war, und zu dem ich trotzdem getrieben wurde. Ich ging zum Postamt und ließ Simone mit einem Telegramm an die Schule, in der sie arbeitete, wissen, wo ich auf sie warten wollte. Wir warteten also weiter. Zwei Stunden danach traf ein Antwort-Telegramm ein, das indessen nicht von Simone war. Erstaunen und Angst durchrieselte mich. Es lautete: „Mille. Simone ist abwesend und Ihr Telegramm konnte nicht ausgehändigt werden.“ Später, als klares Denken zu mir zurückkehrte, ging mir auf, daß jemand im dortigen Postamt mich kennen mußte und mir eine Warnung zukommen lassen wollte. Zu dieser Stunde war es Nachtmahlzeit und Mme F. fütterte die Kinder. Eines war noch ein Kleinkind in der Wiege, doch die beiden anderen — Pierre und ein kleiner Junge von 14 Monaten - saßen mit ihr am Tisch. Es gab Scheiben von einem hartgekochten Ei, in Wasser gegarte Karotten und Kartoffeln ohne irgendwelche Zutat oder Abschmelze. „Nur, um dem Wasser ein bißchen Farbe zu geben“, wie sie mir versicherte, goß sie etwas Rotwein in die Trinkgläser. Die beiden zeigten sich dem „gefärbten Wasser“ keineswegs abgeneigt, tranken kräftig und wurden lebhafter. „Wenn ich nur etwas Speiseöl hätte, würde ich es doch ins Gemüse geben“, sagte sie. Den Kindern schmeckte offenbar das Essen. Ich erklärte ihr, daß ich nun gehen müsse und am Morgen wieder zurück sei. Pierre mochte gar nicht, daß ich ihn verließ. Monsieur T. war mit dem Gießen seines Gartens befaßt (seit Tagen hatte es nicht geregnet). Ich sagte ihm, ich müsse unbedingt herausfinden, warum Simone nicht gekommen sei und berichtete ihm auch von der Sozialversicherungs-Angelegenheit, von dem Telegramm und der seltsamen Antwort. Er schien sehr besorgt und die Furchen auf seiner Stirn vertieften sich. Er war kein zur Übereilung neigender Mensch und setzte das Gießen fort. Nach einigen Minuten hatte er entschieden, Simones Schwester anzurufen. Sie und ihr Mann waren beide Lehrer. Ihre Schule lag nicht weit von Simones Schule entfernt in einem Dorf. Sogleich ging er zum Postamt, das noch geöffnet war, doch man konnte keine Verbindung herstellen. Es war sechs Uhr geworden, das Postamt sperrte zu. Mme. T. bot uns ein nettes Abendbrot, ich zog mich früh zurück und schlief ruhelos. Als ich zum Frühstück hinunter kam, hatte Monsieur T. sich bereits auf den Weg zum Postamt begeben. Da alle Leitungen von der deutschen Armee kontrolliert wurden, war das Telefonieren schwierig. Erst nach dem Mittagsmahl wurde er zum Postamt gerufen. Unverzüglich kehrte er zurück und sogleich wußten wir, daß etwas Unerwartetes und Schreckliches geschehen sein mußte. Er hatte mit Felix, dem Schwager Simones, gesprochen: Vor zehn Tagen war Simone von der Gestapo aufgegriffen worden. Ich fühlte mich wie betäubt. Was, wenn Simone unter Folter geredet und unsere Adresse in Marseille sowie die von Pierres Unterbringung preisgegeben hätte? Und warum war sie verhaftet worden? Was war mit Andree, der anderen Lehrerin, und mit George? Was konnte ich am besten tun? Es galt Pierre zu beschützen. Ich mußte ihn sofort holen und nach Marseille zurückkehren. Dort könnte ich weiter entscheiden. Dies sagte ich Monsieur T.: „Ich hole von Mme. F. Pierre ab und verschwinde so schnell wie möglich.“ Ihm schien es das klügste, was getan werden konnte, er wolle sogleich nach dem Zugfahrplan sehen gehen. Ich war in jenen Tagen eine gute Fußgängerin, aber jetzt rannte ich. Als Pierre mich sah, begann das übliche FreudenRitual, aber dieses Mal durfte es nicht lange dauern. Ich erklärte Mme. F., daß die Umstände mich zur sofortigen Rückkehr 32 zwängen und daß ich Pierre mitnehmen müsse. Traurig sah sie mich an und schüttelte den Kopf: „Pardon, aber das ist ganz unmöglich. Mlle. Simone übergab ihn mir zur Pflege, und sie ist die einzige, die ihn mir wieder wegnehmen darf.“ Ich mußte blitzschnell denken, ohne in Panik zu geraten. Wie konnte ich diese einfache, aufrichtige Person dazu bringen, daß sie mich Pierre übergab? Möglicherweise würde Monsieur T. das gelingen, doch ich wollte so schnell wie möglich weg. Simone war verhaftet, und jeden Augenblick konnten die Gestapo in diesem stillen Dörfchen erscheinen. Mir wurde schwindlig, meine Kehle war trocken. Wie ist sie zu überzeugen? „Mme. F.“, sagte ich, „ich muß Ihnen ein Geständnis ablegen. In Wirklichkeit ist Pierre mein eigenes Kind - er ist außerehelich und meine Eltern wollten mir zuerst nicht helfen. Doch jetzt haben sie eingelenkt.‘“ Eine bessere Erklärung fiel mir nicht ein. Mit Tränen in den Augen blickte sie mich an: „Ich wußte, daß es Ihr Kind war — so wie er sich verhielt, als Sie kamen.‘ Sie war tief gerührt. Vielleicht war jemand, den sie liebte, in einer ähnlichen Lage. „Natürlich können Sie ihn mitnehmen. Wenn Mlle. Simone kommt, werde ich alles ihr erklären. Sie wird verstehen. Jetzt weiß ich, warum es Probleme mit der Sozialversicherung gab.“ Sie holte Pierres Sportwagen und packte seine Kleider ein. Es gab zwar fast keine, doch hatte ich einen neuen Wollpullover und Hosen für ihn mitgebracht. Sie brachte mir auch die Lebensmittelkarte (der Anlaß für alle Probleme mit der Sozialversicherung). Doch in der Eile vergaß ich nach seiner Milchkarte zu fragen. Diese wurde in dem Geschäft aufbewahrt, wo Mme. F. täglich die Milch-Ration für ihn abholte. Selbst in diesem kleinen Dorf war die Milch rationiert. Es gab viele Kühe in dem Dorf und von den Bauern wurde gefordert, täglich eine gewisse Menge Milch abzuliefern. Die Bauern versuchten so viel wie möglich selbst zu behalten, Butter zu machen und am Schwarzmarkt in der Stadt zu verkaufen. Für ein paar Pfund Butter konnte man in der Stadt Lederschuhe mit Ledersohlen bekommen sowie andere begehrte Luxusdinge wie Kaffee, Kleidung und dergleichen. Nach der Niederlage der französischen Armee im Juni 1940 konnte man nur mehr Schuhe mit Holzsohlen ohne Bezugsschein kaufen. Später wurden auch sie rationiert. Auf Holzsohlen zu gehen war nicht leicht — sie klapperten und waren unschierig, doch später, als man sich an sie gewöhnt hatte, waren sie ein guter Ersatz. Monsieur T. traf bald ein. Wir verabschiedeten uns von Mme. F., die mich und Pierre unter Tränen küßte und mir versicherte, mein Schicksal sei das von vielen anderen jungen unglücklichen Frauen und wie glücklich sie sei, daß meine Eltern mir vergeben hätten. Peter ertrug ihre Umarmungen mit Fassung, offenbar hatte er alles verstanden und war ungeduldig aufzubrechen. Wir holten meine schon am Morgen gepackte Tasche aus dem Haus meiner Wirte und sagten Mme. T. und den drei kleinen Mädchen Adieu. Sie steckte mir zwei kleine Gläser mit eingekochtem Gelee, Brot und Milch für den Reiseweg zu. Monsieur T. hatte dem Fahrplan entnommen, daß ein Zug in Richtung spanische Grenze ging. Jedoch war die erste Station nach fünfzehn Minuten ein Dorfbahnhof, wo ein anderer Zug fast gleichzeitig eintreffen sollte, der nach Toulouse ging und mir erlauben würde, dort nach Marseille umzusteigen. Monsieur T. zeigte sich erleichtert, als wir abfuhren. Schließlich hätte er sich und seine Familie in Gefahr gebracht, wenn die Gestapo mich suchen gekommen wäre. Meine Kennkarte wurde kurz nach Anfahrt des Zuges von einem Gendarmen überprüft, der sich die Karte und