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dann mich ansah, nichts sagte und sie mir zurückgab. In Toulouse mußten wir eine Stunde auf den Zug nach Marseille warten. Es begann dunkel zu werden, und ich gab Pierre ein Stück Brot mit Gelee und ein bißchen Milch. Er war still und zufrieden. Ich schob ihm meinen Pullover unter und so schlief er ein. Meine Gedanken befaßten sich mit Marseille. Was mochte dort während meiner Abwesenheit geschehen sein? Unser Abteil hatte Plätze für sechs Personen — zwei gegenüberliegende Bänke mit harten Rückenlehnen - keine Polster — Dritte Klasse. Die anderen Reisenden waren ein junges Mädchen von vielleicht 18 Jahren, recht hübsch und sehr, sehr schwatzhaft. Ihr gegenüber saß ein ernst aussehender Mann in einem schwarzen Anzug, der fast einer Uniform glich. Er trug Stiefel. Seiner Unterhaltung mit dem jungen Mädchen konnte ich entnehmen, daß er Mitglied der PPF war, der Französischen Volks-Partei (Partie Populaire de France). Deren Mitglieder wurden von vielen gefürchtet. Sie arbeiteten aufs beste mit der Vichy-Miliz zusammen und waren als Denunzianten bei der Polizei bekannt. Das junge Ding flirtete mit ihm und beide ignorierten mich zu meiner größten Zufriedenheit. Ich besitze eine gewisse Begabung für Fremdsprachen und eigne mir ohne Schwierigkeiten ein großes Vokabular an, doch verrät mein Akzent gewöhnlich, daß Englisch meine Muttersprache ist. Die restlichen Reisenden waren wortkarg und befaßten sich mit ihrem mitgebrachten Reiseproviant. Einer hatte ein kleines Brathuhn in eine weiße Serviette gewickelt und kaute schweigend drauflos, ohne sich an den scheelen Blicken der anderen zu stoßen. Neben ihm saß eine ältere Frau, die sich recht bald eine schwarze Sonnenbrille aufsetzte und in einen gesunden Schlaf verfiel, wobei sie von Zeit zu Zeit sanft schnarchte. Ich döste vor mich hin. Der PPF-Mann und das Mädchen berührten die verschiedensten Themen, die sich von Ernährungsproblemen bis zur Frage erstreckten, wann die Alliierten die Zweite Front eröffnen würden. Er war gegenüber der Zweiten Front skeptisch und überzeugt, daß die Deutschen in Kürze den Krieg gewinnen würden. Die beiden waren so ins Gespräch miteinander vertieft, daß ihnen entging, daß der Zug angehalten hatte. Es war kein Schnellzug. Eine Frau mittleren Alters, schwarz gekleidet, jedoch in guter Verfassung, schaute in unser Abteil. Als sie des PPF-Mannes ansichtig wurde, riß sie die Tür ganz auf und kam herein. Der Mann unterbrach die Unterhaltung, erhob sich und küßte die Stirn des Neuankömmlings und bot ihr seinen Platz, wobei er das Mädchen vollkommen ignorierte. Das junge Ding war erstaunt und schaute enttäuscht und unglücklich drein. Sie verließ danach bald den Zug. Gegen sieben Uhr früh trafen wir in Marseille ein. Pierre hatte die Nacht durchgeschlafen und sah ausgeruht aus. Eine Prüfung der Carte d’indentit€ hatte nicht stattgefunden. Ich setzte Pierre in sein Sportwägelchen, stellte eine unsere Taschen auf seine Knie (beide Taschen waren sehr leicht) und trug die andere in der Hand. Wir erwischten bald einen Trolley-Bus, der uns zum Arbeitsplatz von Harry brachte — der Deutschen Seemanns-Verwaltung. Ich mußte wissen, ob er eventuell verhaftet worden war. Ich mußte Pierre mit all meinen Kräften beschützen. Ich kannte das Fahrrad, mit dem Harry (er begann um acht Uhr morgens) zur Arbeit fuhr. Pierre und ich setzten uns auf die Terrasse des Cafes direkt gegenüber dem Verwaltungsgebäude. Es war ein wunderschöner, wolkenloser Morgen. Der Himmel war blau und die Luft klar. Ich bestellte Ersatz-Kaffee für mich und Ersatz-Limonade für Pierre, der sie begeistert trank. Ich gab ihm eine Scheibe Brot mit Gelee und er sah zufrieden aus. Obwohl er sehr wenig zu essen bekommen hatte, weinte er nicht. Er war glücklich, bei mir zu sein. Zehn vor acht sah ich Harry vorbeiradeln. Mein Herz raste vor Aufregung und Erleichterung. Ich rief nach ihm, er sprang von seinem Rad und rannte zu uns. Pierre freute sich, ihn zu sehen, und wieder kam es zu dem Ritual des tiefen Atmens und dem Nach-der-Hand-Fassen. Ich schilderte ihm schnell die Lage. Was war zu tun? Möglicherweise war die Gestapo schon jetzt in unserer Behausung... sollten wir wagen, heimzugehen? Harry ging hinauf ins Büro seines Chefs und erklärte ihm, ich sei gerade mit unserem Kind vom Lande eingetroffen, der Kleine sei krank und müsse schnellstens zu einem Spezialisten gebracht werden. Er stellte das Fahrrad im Keller des Bürogebäudes ein und nach etlichen Minuten des Hin- und Herüberlegens entschlossen wir uns zum Risiko der Heimkehr. Der Trolley-Bus brachte uns zum Point Rouge, wo unser kleines Appartement lag — beinahe am Strand des Mittelmeers. Wie oft hatte ich den überwältigend schönen Sonnenuntergang von dort beobachtet - wenn die Sonne wie ein gigantischer roter Ball ganz nahe dem Wasser war, so daß ich glauben konnte, ich müsse nur übers Wasser gehen, um sie anfassen zu können. Dann sagte ich mir selbst, wie gut, daß ich über dergleichen noch Freude empfinden konnte, trotz der schrecklichen und gefährlichen Zeit, in der wir lebten. Ehe ich die Pyrenäen verließ, hatte mir Dr. M. (Bürgermeister und einer von zwei Dorf-Ärzten) für sechs Monate einen halben Liter Vollmilch täglich verschrieben, weil ich an starkem Gewichtsverlust litt. Dadurch hatten wir jetzt Milch für Pierre. Zuhause befand sich alles an seinem Platz. Die Gestapo war nicht gekommen. Ich gab dem Kind einen Brei und Milch und steckte ihn in sein Bettchen. In diesem Augenblick erinnerte ich mich, daß Mme. F. mir seine Milchkarte nicht gegeben hatte. Ich fühlte einen dumpfen Schmerz in meinem Magen. In der Küche berieten wir, was zu tun wäre. Elf Tage waren seit Simones Verhaftung vergangen. Hätte sie über unseren Verbleib ausgesagt, hätte man uns längst aufgegriffen. Oder beschattete uns die Gestapo als Lockvögel für die anderen Mitglieder unserer Organisation? Und wohin sollten wir gehen? Mit einem Kind ist es nicht leicht, sich zu verstecken. Wir hatten sehr wenig Geld und brauchten Essen (besonders Milch) sowie Unterkunft für Pierre. Würde uns unsere Organisation helfen können, ohne andere in Gefahr zu bringen? Wir beschlossen, das Bleiben zu riskieren. Um ein Uhr nachmittags ging Harry. Dem erwachten Pierre gab ich Karotten- und Kartoffelgemüse und wir machten uns auf zu einem Spaziergang. Nachdem der Milchladen geöffnet hatte, sprach ich mit der Besitzerin, einer sehr netten Frau, die Flüchtling aus dem Elsaß war. Ich erklärte ihr, daß wir den Kleinen in die Provinz gegeben hatten, ihn aber, nachdem er krank geworden, wieder zu uns holten, und daß ich seine Milchkarte verloren hätte, was mich sehr bedrücke, da er doch seine Milch brauche. Sie versprach, mit dem alltäglich die Milch liefernden Mann zu sprechen und ihn zu fragen, was unternommen werden müsse, um die Karte wieder zu erhalten. Im Laden befanden sich mehrere Leute, die aufmerksam unserem Gespräch zuhörten. Ich wubte, daß ich etwas Falsches tat. Aber es blieb mir keine Wahl. Meine eigene Karte lief in Kürze ab. Und ein Kind braucht Milch. Einige Tage darauf — es war ein Uhr nachmittags und Pierre schlief nach dem Mittagsmahl — wurde die Stille unserer Wohnung durch ein lautes, forderndes Klopfen an die Tür unter uns 33