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Wir bogen mal rechts, dann links in verschiedene Seitengassen ein. George machte ununterbrochen Konversation. „Ich habe Innenarchitektur studiert“, erzählte er. „Wo waren Sie während des Krieges?“ fragte ich zurück. „In Straßburg, Untergrund. Es war auch kein Honiglecken, aber natürlich nichts im Vergleich zu euch, in Pitche-Poi.“ Die letzten Worte hatten gequält geklungen, sehr persönlich. Was wußte er von Auschwitz? „Dürfen Sie hier arbeiten?‘ lenkte ich vom Thema ab. „Ja, ich habe die so ersehnte Identitätskarte mit Arbeitserlaubnis erhalten. Es ist momentan Mode, sich bei der Einrichtung einer Wohnung oder eines Hauses beraten zu lassen. Ich bin sehr beschäftigt.“ Nach einem Seitenblick zu mir: „Es gibt erstaunlich viele Reiche.“ Trotzig fügte er noch hinzu: „Mir ist es egal, von wo das Geld kommt. Ich scharr’s zusammen. Non olet. — Da waren wir.“ Wir hatten vor einem der netten Wohnhäuser Halt gemacht. George öffnete mit seinem Schlüssel die Türe einer Parterrewohnung, trat als erster ein, drehte einen Schalter auf und blieb stehn, um seinen Gästen den Vortritt zu lassen. Unwillkürlich entschlüpfte mir ein anerkennendes „ah“. Gedämpftes Licht, eine große niedrige Couch, unzählige Polster in allen Größen und Farben, kleine Tabourette standen vereinzelt da, Skulpturen und Figuren von innen beleuchtet, orangegelbe Vorhänge, der Gesamteindruck war harmonisch und verlieh dem Raum eine angenehme Atmosphäre. Bald hatten wir uns auf dem Riesenlotterbett hingelümmelt, ein elektrischer Ofen verbreitete behagliche Wärme, man plauderte durcheinander. Der Hausherr hatte eine Flasche Burgunder geöffnet, aus einer Lade im Dunkeln hatte er eine Büchse mit holländischen Keksen hervorgezaubert. Bevor sich noch jemand bedienen konnte, übertönte Ollys Stimme alle: „Ich bitte um das Wort. Unsere Stella hat vor einer Woche Bergen-Belsen verlassen. Laßt uns auf ihr spezielles Wohl trinken. Stella „, wandte sie sich mir zu, „auf einen schönen Platz an der Sonne!“ Alle stießen an. Es waren echte Kristallgläser, die schön klangen. Ich dankte, konnte aber nichts sagen. George forderte mich auf, ihm in sein Arbeitszimmer zu folgen, einen Alkoven, der durch einen schwarzen Vorhang vom Hauptraum abgetrennt war. Ich sah ein großes Zeichenpult und einen Schreibtisch. Überall lagen Skizzen und beschriebene Blätter verstreut. Oberflächlich betrachtete ich eine dieser Zeichnungen. „Dies ist Estelle, meine Frau“, hörte ich seine Stimme hinter mir. Er zeigte mir das Bild einer sehr jungen Frau. Ein schmales Gesicht mit hohen etwas vorstehenden Backenknochen, fast erdrückt von schweren Zöpfen, in der Art einer Gretelfrisur. „Sehr appart“, flüsterte ich. Meine Gedanken gingen zurück. „Estelle?“ Wo hatte ich diesen Namen gehört, wo dieses Gesicht gesehen? „Stella, George, nicht separieren, kommt her, wir wollen Bruderschaft trinken! Hoffentlich hast du noch eine Flasche, George?“ George verschwand und kehrte nach wenigen Minuten mit einer Kiste zurück. „Wird das reichen, du Säuferin, Olly?‘“ fragte er lachend. „Schenkt ein, schenkt ein den Frankenwein“, begann Fritz zu singen. Es tat mir direkt weh, aber ich konnte nicht erklären, warum. 36 Spontan hob ich meinen Arm und sagte ernst: „Bitte, laßt das für einige Augenblicke. Ich habe Grüße für alle. Vor 14 Tagen war ich auf den Massengräbern in Bergen-Belsen. Die Toten lassen grüßen.“ Ich erhob mein volles Glas: „Sie sollen ruhn.“ Schweigend standen wir da und leerten die Gläser. Die Stimmung für Bruderschaft war verflogen. „Es tut mir leid“, meinte ich kleinlaut. „Aber Kinder, es ist alles noch so frisch.“ Alle umarmten mich, Tränen liefen in großen hellen Tropfen über die blassen Gesichter. Wahrscheinlich wußten sie nicht, daß sie weinten. In Gedanken versunken saßen wir da, bis Fritz aufsprang und schrie: „Das nächste Glas auf die Überlebenden und ihre Zukunft!“ Die Stimmung war wieder hergestellt. Vor Mitternacht brachen wir alle auf. George bat, mit mir gehen zu dürfen. „Ich muß Luft schnappen. Das tu’ ich oft allein, mit dir wird es netter sein.“ Unwillkürlich duzten wir uns, fühlten uns verwandt, verbunden. Langsam schlenderten wir durch das nächtliche Paris. Die Luft war milde wie im Frühling. George erzählte: „Estelle wurde in Straßburg geboren. Ich bin 1938 dorthin gekommen. Wir haben uns kennengelernt und sehr bald geheiratet. Am 17. Juni 1944 ist sie spulos verschwunden. Ich hab mich überall nach ihrem Verbleib erkundigt, ohne Resultat. Ich hoffe, daß sie eines Tages erscheinen wird. Wer weiß?“ Ich versuchte, ihn zu trösten: „Es gibt so viele Möglichkeiten. Plötzlich kann sie wieder da sein.“ Dankbar aber müde schaute er mich an. Wir waren vor einem hellerleuchteten Schaufenster stehen geblieben. Georges Gesicht, das mir im Spiegel entgegenschaute, war weder jung noch munter. Ich entdeckte auch einige graue Haare, die sein dunkelblondes Haar durchzogen. „Stella, bitte, sei mir nicht böse, aber ich frage jeden und jede. Ist sie dir irgendwann, irgendwo untergekommen? Ist dir Estelle begegnet? - Ich will Gewißheit haben“, nun klang seine Stimme hart und entschlossen: „Alles ist besser als dieses Warten und Warten.“ Nachdenklich meinte ich: „Ich weiß nicht, aber ich glaube, ich wäre glücklicher, wenn ich noch im Ungewissen wäre. Gewißheit ist schrecklich endgültig.“ Ich dachte an Richard. Teilnehmend verwirrt betrachtete mich George. Wir setzten unseren Weg fort und gelangten zum Hotel Richelieu. „Wegen Estelle werde ich nachdenken. Ich verspreche es. Falls mir etwas einfallen sollte, werde ich dir schreiben. Ich fahre dieser Tage nach Nice.“ Ich fühlte Nebel im Kopf und Bleischwere in meinen Beinen. „Lebwohl“, sagte ich und erwiderte seinen Händedruck. „Ich werde in den nächsten Wochen in Nice sein. Darf ich dich dort aufsuchen?“ fragte er. „Natürlich darfst du“, versicherte ich lebhaft, „aber ich hab noch keine Adresse.“ „Das ist das Wenigste“, nun war er wieder der schlacksige Junge, „auf der Promenade des Anglais werde ich dich bestimmt erwischen.“