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Alle Anwesenden blickten überrascht zu ihm hin. Seine Stimme war ausgesprochen angenehm und schön. „Dieses Lied müßte abgeändert werden“, meinte ich trocken, „zumindest der Text. Es sollte heißen: ‚— sollst stets die Stadt meiner Alpträume sein‘.“ Der Engländer war rot angelaufen, er tat mir leid, aber ich mußte so reagieren. „Aber, aber, wegen der paar Nazis kann man doch nicht eine ganze Stadt verdammen“, versuchte er mich zu beruhigen, doch er hatte meine Wut nur noch mehr herausgefordert. Ich brüllte los: „Sie haben ja keine Ahnung, was sich in Wien getan hat, als Hitler am 12. März 1938 einmarschierte. Die paar Nazis? Ganz Wien war in einem Freudentaumel. Ich stand auf einem Balkon auf der Ringstraße und hab das mit meinen eigenen Augen angesehen. Der Führer wurde von Alt und Jung mit offenen Armen empfangen, der Jubel kannte keine Grenzen. Wie stolz hatten sie die Hakenkreuzfahnen geschwungen und wie enthusiastisch klang ihr ‚Sieg Heil, Sieg Heil‘, abwechselnd mit ‚Juda verrecke‘ und ‚Heil Hitler‘ in Sprechchören. Riesenstandarten mit überlebensgroßen Abbildungen ihrer Führer sah man an allen Ecken und Enden. Diese Tausende und Abertausende von Menschen waren die gleichen, mit welchen ich Zeit meines Lebens bis vor wenigen Tagen zusammen gelebt, gegessen, gewohnt, getanzt, getrunken, geplaudert hatte. Diese Wiener mit dem sogenannten ‚Goldenen Wiener Herzen‘, diesen Mob hätten Sie sehen sollen, dann würde Ihnen das Schwärmen für die wundervolle Wienerstadt vergehen, und noch dazu gründlich.“ Ich war maßlos aufgeregt, schaute meinem Gegenüber unentwegt in die erschreckten Augen und hatte gar nicht bemerkt, wie still es im Raum geworden war. Alle Blicke waren auf mich gerichtet. „Ich war vor Hitler in Wien, habe dort Musik studiert. Diese Stadt war erfüllt von wunderbaren Klängen. — Schade, jammerschade“, murmelte er vor sich hin, aber dann lächelte er mich an: „Nun müssen wir aber zur Tagesordnung zurück, wie es so schön heißt. Wo war Ihr ständiger Wohnort?“ „Bis zum Jahr 1938 Wien, nachher mit Unterbrechung - Nice.“ „Wollen Sie nach Wien repatriiert werden?“ fragte er z6gernd. „Nie wieder Wien, nie!“, erklärte ich mit fester Stimme. „Also wohin? Sie sind doch staatenlos?“ „Ich bin ‚Sujet Ex-Autrichien‘. Mir wurde mein österreichischer Paß auf der Prefecture in Nice abgenommen, als mir seinerzeit der Aufenthalt dort bewilligt wurde. Ich muß nach Nice repatriiert werden, bitte“, versuchte ich ihn zu überreden. Er stand auf und ging zu einem seiner Kollegen, anscheinend einer höheren Charge, um über meinen Fall zu beraten. „Diese Angelegenheit ist sehr kompliziert“, sagte er zurückkehrend, „wir haben eine Menge französischer Staatsbürger, welche nach und nach abgeschickt werden. Die Transportmittel sind beschränkt und es geht nur langsam vorwärts. — Sie müssen ein Gesuch beim französischen Officier de liaison einreichen, zwei Adressen von französischen Staatsbürgern, die in Nice wohnen, angeben. Letztere müßten bereit sein, für Sie zu garantieren. Glauben Sie, daß Sie diese Bedingungen erfüllen könnten?“ Nachdenklich nickte ich mit dem Kopf. „Aber auch dann, das heißt falls diese Garanten überhaupt noch an den angegebenen Orten leben und sich dazu entschlieBen, für Sie gut zu stehen, wird es Monate dauern, bis die rein 38 administrative Seite der Sache erledigt ist. Dann kommt noch das Technische hinzu. Sie müssen auf eine lange Wartezeit gefaßt sein. Es tut mir ehrlich leid.“ Ich glaubte ihm. Niedergeschlagen schaute ich zu ihm auf: „Danke Ihnen auf alle Fälle für Ihre Mühe. Darf ich Ihnen die zwei betreffenden Adressen angeben?“ „Ich werde mit dem Officier de liaison sprechen. Er wird Sie vorladen und ihm müssen Sie die Garanten nennen. - Stella, ich werde alles tun, um Ihnen die Repatriierung nach Nice zu ermöglichen. Sie werden nach Nice kommen, verlassen Sie sich auf mein Versprechen.“ Sorgsam, fast zärtlich nahm er meinen Arm und geleitete mich zur Türe. Unterwegs flüsterte ich: „Es gibt noch einen Grund, weshalb es mich so nach Nice zieht. Sollte mein Mann überlebt haben, werde ich ihn nur dort wiedertreffen.“ „Es wird klappen“, sagte er und drückte mir die Hand. Nice, Donnerstag, 10. Jänner 1946. Immer wieder wundere ich mich, daß noch so viele von uns leben. Ich kann mich nur schwer zurechtfinden, bin müde, will nirgends hingehen. Wenn die beiden Da Silvas nicht wären, würde ich überhaupt nicht meine Wohnung verlassen. Als ich heute früh zu den Da Silvas kam, fand ich dort ein junges Mädchen vor. Sie manikürte eben eine der Damen, hob kaum den Kopf auf, um mein freundliches „Guten Morgen“ zu beantworten. Mir fiel ihr gelocktes kastanienbraunes Haar auf. Ich vertiefte mich in die Arbeit und bemerkte deshalb gar nicht, daß sie schon vor mir gegangen war. Draußen war ich überrascht, das Mädchen mit dem Lockenkopf auf mich warten zu sehen. Mit der Andeutung eines scheuen Lächelns kam sie auf mich zu: „Sie haben mich nicht erkannt? Ich Sie sofort. Ihr Mann ist Arzt —“ „War —“ berichtigte ich. „Oh.“ Sonst nichts. Dieses „Oh“ drückte mehr Mitgefühl aus als lange Sätze und Versicherungen. Aber noch immer wußte ich nicht, wen ich vor mir hatte. Ich habe sie irgendwo gesehen, aber wo? Diese ein wenig farblosen Augen, das weiche Gesicht mit dem großen Mund. Ja, der Mund war direkt schön und ausdrucksvoll, die Zähne groß und regelmäßig. „Ich wollte vor den Damen nicht sprechen. Sie wissen nichts von mir. Was verstehen schon diese Gojim?“ Es sprudelte nur so aus ihrem Mund. Ein feiner Regen nieselte. „Haben Sie Zeit?“ fragte ich, „dann könnten wir auf einen Kaffee gehn? Ich habe genau 30 Minuten.“ Sie nickte eifrig. Forschend betrachtete ich mein Gegenüber. Nervös rutschte sie auf ihrem Stuhl hin und her, biß die Fingernägel. „Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf, ich werde Ihnen helfen“, meinte sie mit einem Anflug von Humor in der Stimme. „Wir sind gemeinsam aus Borgo St. Dalmazzo gefahren.“ „Oh mein Gott!“, erinnerte ich mich an jene Fahrt, meine erste im Viehwaggon. In der Morgendämmerung hatte der Zug angehalten. Wo befanden wir uns? Ein junger Bursche war gegen das strenge Verbot auf eine