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Bank gestiegen, steckte seinen Kopf aus der Luke, deren Brett zuvor gelockert worden war. Ein Schuß — und schon spritzte Blut auf uns, die wir in der Umgebung saßen. Im trüben Licht, das da herrschte, sah ich den Jungen auf der Bank, auf die er gestiegen war, ausgestreckt liegen. „Emma, Emma!“ schrie er zuerst kreischend laut, dann leiser: „Emma, Emma, wo bist du?“ Die Menschen waren zurückgewichen und standen angstvoll starrend aneinandergepreßt da. Richard war sofort an seiner Seite. Er untersuchte ihn und packte Verbandzeug aus. Die Kugel war durch die Nase in den Kopf gedrungen. Er lebte noch. Seine Frau hielt seinen Kopf in ihrem Schoß und redete ihm gut zu. Wußte sie, daß ein Sterbender vor ihr lag? „Sie erkennen mich wieder?“ hauchte sie. Wie konnte ich diese Augen nur als farblos bezeichnen. Das Weh von Generationen spiegelte sich in diesem Augenblick darin. Dann gab sie sich einen Ruck, strich eine Locke aus der Stirn und sagte: „Das ist lange her. Es war an meinem 17. Geburtstag, als wir Borgo verließen.“ Ihre Stimme wurde noch fester: „Danach war ich in Nice, in Drancy, in Auschwitz — und in Ravensbrück. Heuer werde ich zwanzig.“ Sie lächelte mich an. „Ich bin ganz allein. Alle sind umgekommen.“ Ein bißchen trotzig fuhr sie fort: „Aber ich hab doch Glück. Ich fand einen Freund. Er ist zwar 20 Jahre älter als ich, aber so gut.“ Nun spielte ein glückliches Lächeln um ihren Mund. „Ich freu mich für Sie, Emma“, sagte ich herzlich. „Ein Franzose?“ „Ein Jude aus Casablanca. Er hat auch viel mitgemacht. Er nennt mich Emmyline. Ich - ich hasse den Namen Emma. Sie verstehen mich doch?“ Und ob ich verstehe. „Ich muß leider weg“, bedauerte ich. Wir tauschten unsere Telefonnummern aus. Emmyline, Emmyline geht es in meinem Kopf herum. Es war bitterkalt. Unzählige Male blieben wir stehen und fuhren wieder weiter. Ging es nicht im Kreis herum? Einer von uns lockerte ein Brett über der Oberluke. Nun gab es mehr Luft. Im Rhythmus der Fahrt nickte ich ein. Sobald wir hielten, erwachte ich. „Edi! Was tust du?“ hörte ich ängstlich schreien. Dann der Schuß. Bald darauf hatten wir einen Toten unter uns. Nachts hielt der Zug an, Ketten klirrten, ein Waggon nach dem anderen wurde geöffnet, uns übergingen sie. Das war unsere Strafe. Weiter ging die Fahrt. Angst, der penetrante Gestank und der Tote unter uns wirkten sich sehr bald aus. Manche erbrachen, andere fielen in Ohnmacht, Kinder schrien. Der Eimer war nach 14-stündiger Fahrt übergegangen, der Boden schlüpfrig von Exkrementen. Gegen Morgen hielt der Zug an. Nur unser Waggon wurde geöffnet. Die SS-Soldaten befahlen zu säubern. Mit den Händen kratzten wir den Dreck zusammen, leerten den Eimer aus. Dann hieß es: „Alle raus, graben!“ Die Erde war festgefroren. Mit Fingernägeln lockerten wir sie. „Schneller, schneller!“ Unsere Hände bluteten und waren zerschunden. Endlich hatten wir es erreicht, eine Grube war ausgegraben worden und wir legten den Toten hinein. Es hatte zu dämmern begonnen, ein neuer Morgen war angebrochen. Emma starrte vor sich hin, tränenlos, mit Blut bedeckt. „Schema Israel“, sagte ich halblaut und die anderen fielen ein. Höre Israel... aber wer hörte uns schon? Wieder waren wir zusammengedrängt in unserem Waggon. Aber irgendetwas hatte sich geändert. Solange wir mit dem Toten gefahren waren, hatte eine eigentümliche Starrheit geherrscht, die Gefühle waren gehemmt. Trotz Blut und Gestank war die Majestät des Todes fühlbar gewesen. Jetzt, nach dem Begräbnis, ließ jeder seinen Gefühlen freien Lauf. Eltern schrien mit ihren Kindern, Männer machten sich an die Frauen heran, die Frauen reagierten mit Gekicher und Koketterie. Alle Arten von Tönen und Lauten waren vernehmbar. Das Schluchzen der jungen Witwe wurde von den Liebeslauten der improvisierenden Paare übertönt. Mich ekelte und ich konnte die Menschen nicht verstehen. Einen Augenblick lang mußte ich an unser hemmungsloses Liebesleben im Keller denken und da begriff ich: Es war Angst, nackte Angst, welche die Menschen zueinandertrieb. Ich lehnte mich an Richards Schulter und schlief ein. Als die Sonne aufging, wurde es wärmer und wärmer. Mäntel und Jacken wurden abgelegt. „Wir sind bestimmt nicht in Deutschland. Um diese Jahreszeit ist es dort nirgends so warm“, meinte Richard nachdenklich. Wir waren hungrig und durstig und dreckig. Je höher die Sonne stieg, desto wärmer wurde der Gestank. Mehr tot als lebendig waren die meisten von uns eingeschlafen. Ein Donnerschlag weckte alle auf, ein Wolkenbruch ging nieder. Der Regen prasselte auf das Waggondach und durch die Ritzen nahmen wir Blitze wahr. Der Zug blieb stehen und sofort danach wurden alle Ketten gleichzeitig in Bewegung gesetzt, die Türen aufgemacht. „Raus“, lautete der Befehl. Nur zu gerne folgten wir. Die Luft war warm, es regnete. Die Bahnstation war groß, kam mir bekannt vor und da bemerkte ich auch schon die Aufschrift: „Nice.“ Wir waren nicht in Deutschland. Eine Welle von Hoffnung und neuer Energien ging durch die Reihen. Wieder waren es Fünferreihen und nichteinmal der deutsche Befehl „Vorwärts, marsch“ entmutigte uns. Frisch marschierten wir los. „Avenue Durante“, las ich und fühlte mich wieder zuhause. „Halt!“ Hier war doch das Hotel „Excelsior“, ein nettes bürgerliches Hotel, an dem ich so oft vorbeigegangen war. „Männer — rechts, Frauen und Kinder - links. Sie werden sehr bald wieder beisammen sein.“ Die Stimme des SS-Offiziers klang normal, vertrauenerweckend. Sollten wir etwa befreit werden? Wir waren doch in Nice. Wer weiß? 39