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Ich betrat in der Reihe mit den Frauen und Kindern das Hotel. Träumte ich? Diese Hotelhalle war wie alle Hallen in sauberen zweitklassigen Hotels überall in der Welt, aber mir schien sie wie ein Palast, wunderschön... Gleich normalen Hotelgästen wies man uns an, beim Pult des Managers vorbeizukommen. Dort standen einige gut gekleidete höfliche Zivilisten, die uns aufforderten, Geld und Wertsachen abzugeben. Wie in Trance gab ich ihnen mein Seifensäckchen. Als ich mich abwandte, um weiterzugehen, blickte ich auf und sah Drucki vor mir. Zurechtgemacht mit Make up, gepflegt und adrett gekleidet, sah sie wie eine distinguierte Touristin aus. Nur ihre Augen verrieten mir, daß der Schein trügt. „Also, haben sie dich auch erwischt“, verstand ich aus ihrem Blick. Sie war todtraurig. Erst jetzt erwachte ich aus meiner Benommenheit. Hier winkte keine Freiheit, hier war ein Gefängnis. Die gutgekleideten Leute die ich hier sah, waren keine Feriengäste, sondern einfach Juden wie wir, Juden, die warteten. Worauf? Verwahrlost und verstunken in unseren italienischen Uniformmänteln wirkten wir keineswegs vertrauenerweckend. Die Blicke, die uns trafen, sprachen Bände, machten kein Hehl daraus, daß man uns für den Abschaum der Menschheit hielt. Meine Gruppe bewegte sich vorwärts, Drucki hatte sich darunter gemischt und sich an mich herangeschlängelt. „Wo ist Richard?“ fragte sie wispernd. „Auch hier“, sagte ich. „Und Sie?“ „Arbeite als Ärztin, jüdische Equipe.“ „Bleiben wir hier?“ „Nein“, sie schüttelte den Kopf. Man befahl uns, die Stiegen hinaufzusteigen. Hintereinander gingen wir nach oben. Männer in Zivil kamen uns entgegen. Sie sprachen deutsch und ich fing Bruchstücke ihres Gespräches auf. „In zwei Stunden muß ein Transport abgehen.“ „Eine Menge Neue sind avisiert. Das Haus muß frei werden.“ „Werden wir fertig?“ Ich hatte noch die letzten Worte im Ohr, als mir ein hochgewachsener blonder Mann entgegenkam. Sobald er auf gleicher Höhe mit mir war, sprach ich ihn an: „Vielleicht können Sie mir einen Rat geben? Mein Mann ist Arzt, ich bin Krankenschwester, wir sind eben angekommen, wollen arbeiten, helfen —“ Er fixierte mich scharf. „Wie heißen Sie?“ An der Aussprache erkannte ich den Österreicher. „Stella Borger, in Wien geboren.“ Er brummte etwas vor sich hin und ich hörte: „Gehen Sie zu Ihrer Gruppe.“ Höflich sagte ich „Danke“ und stieg zum dritten Stock hinauf. Hier lagen viele aus unserem Transport auf Bänken und Stühlen herum. Alle waren müde, abgekämpft, erschöpft, hungrig und durstig. Ich setzte meinen Rucksack ab. Kinder weinten. Da entdeckte ich Drucki am anderen Ende des Korridors. Fremdtuend sprach ich sie laut an: „Wir brauchen Wasser für die Kinder.“ Sie nickte. „Aufpassen, ich sah Sie im Stiegenhaus mit Ullmann sprechen. Er ist der Gestapochef.“ „Oje“, dachte ich. 40 Arno Reinfrank Stehaufmänner Sie standen mit der Grußhand. Sie standen mit der Schwurhand. Sie standen vorm Führer. Sie standen. Sie standen. Sie standen hinter Panzern. Sie standen an Geschützen. Sie standen in Gräben. Sie standen geschlossen. Sie standen im Schneesturm, im Wasser, in der Sonne von Narvik bis Tobruk für Rasse und Reinheit. Sie standen blutend. Sie standen in Bedrängnis. Sie standen überlistet. Sie standen. Sie standen. Neben Offizieren mit Befehl aus der Heimat, neben Kameraden sie standen, sie standen. Sie standen für Deutschland. Sie standen gefangen. Sie standen entwaffnet. Sie standen. Sie standen. Sie standen beschuldigt. Sie standen hungrig. Sie standen frierend verlaust und in Lumpen. Sie durchstanden die Heimkehr. Sie durchstanden Verhöre. Sie durchstanden die Trümmer. Sie durchstanden die Toten. Sie standen im Aufbau. Sie standen als Verwalter. Sie organisierten. Sie führten. Sie standen nie allein. Sie stehen als Chefs. Sie stehen an der Theke. Sie stehen zum Schwurwort. Sie stehen zur Ehre. Sie stehen zur Rechten. Sie stehen gegen Linke. Sie steh’n zu ihrem Europa, dem halten sie aufrecht instand die Standarte.