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Auch wenn ich nur deswegen nach Krakau gefahren wäre, um das polnische » mit dem Schrägstrich, der von links unten nach rechts oben die Vertikale des Buchstabens etwa in halber Höhe durchkreuzt, und dessen Aussprache - ein sanftes, gehauchtes W - kennenzulernen, die Tuchhallen, polnisch Sukiennice, und den Veit Stoß-Altar zu sehen — die Fahrt hätte sich ‚gelohnt‘. Aber da waren auch noch die Graphiken des achtzigjährigen Jerzy Panek, die seltsamen Tierknochen beim Eingang der Kathedrale am Wawel, die ausschließlich mit Holznägeln zusammengefügte Balkenkonstruktion im Turm, die die elf Tonnen schwere Sigismund-Glocke zu tragen hat, das Haus, in dem Joseph Conrad aufgewachsen ist, das Kaffeehaus Noworolski am Rynek Glöwny, eine Fotoausstellung über die Theaterarbeit von Tadeusz Kantor und das alte jüdische Viertel im Stadtteil Kazimierz... Als ich das lichte Wort „Ariel“ an der makellos weißen Giebelmauer eines schmalen Hauses neben der Alten Synagoge im Stadtteil Kazimierz las, dachte ich ganz gewöhnlich an das Waschmittel gleichen Namens; doch die drei Wörter darunter — Restaurant / Cafe / Museum - und die Lage des Gebäudes erinnerten mich daran, daß das Wort noch eine andere Bedeutung hat. Es war stockfinster in den unbeleuchteten Gassen, es war neun Uhr abends, ich war in den vergangenen Stunden kreuz und quer von der Marienkirche am Rynek Glöwny durch die Altstadt, am Wawel, an der Burg vorbei in dieses östliche Viertel von Kazimierz gewandert, ich hatte Hunger. Im länglichen Raum waren nicht mehr als ein halbes Dutzend Tische links und rechts entlang der Wände angeordnet. Ein kleiner Tisch war noch frei. Ich bestellte ein Bier und- nach einigen Erkundigungen über die Zusammensetzung der sowohl in polnischer als auch in englischer Sprache aufgelisteten Speisen — eine Art Eintopf aus Rindfleisch, Bohnen und anderem Gemüse. Da die Zubereitung der Speise dauerte, widmete ich mich vorerst dem Bier, das leider nur in Flaschen serviert wurde, Marke Zywiec, und jenem Teil der Lokalität, die wohl die Außenaufschrift Museum rechtfertigen sollte, nämlich einer Sammlung von Bildern an den Wänden — hauptsächlich impressionistisch gemalte bukolische Landschaften und Porträts aus der Zeit um die Jahrhundertwende. Im Eingangsbereich befand sich ein kleiner Kiosk mit Ansichtskarten von Krakauer Sehenswürdigkeiten nach historischen Fotografien. Neben Thomas Keneallys „Schindlers Liste“ lagen Publikationen über die Stadt Krakau und solche, die die Geschichte des jüdischen Viertels im allgemeinen, den Holocaust und die Vernichtungslager Sobibör, Majdanek und Oswiecim/Auschwitz im speziellen betrafen. Meine über die Buchtitel hinweggleitenden Augen erfaßten einen Namen, den ich hier nicht erwartet hätte: Bruno Schulz. Am schwarzen Schutzumschlag ein Bild, das aussah wie die Reproduktion einer Radierung: die schwarzen Linien und die durch Schraffuren entstandenen Flächen definierten eine schreitende, bis auf die schwarzen Kniestrümpfe und hohen Schuhe unbekleidete, junge, schlanke Frau, gefolgt von einer Prozession männlicher Fetischisten, deren Fahne ein Damenschuh zierte, und umgeben von devoten, zum Teil verkrampft am Boden liegenden, ebenfalls männlichen Individuen und Gnomen (ein Gesicht trug, wie ich später herausfinden sollte, die Züge des Schöpfers dieses grotesken Umzugs). Titel: Das Götzenbuch. Ich hatte tatsächlich Reproduktionen von Graphiken und Zeichnungen jenes am 19. November 1942 in seiner galizischen Heimatstadt Drohobytsch von einem Gestapomann auf offener Straße erschossenen Autors der Zimtläden vor mir. Undula, das ewige Ideal, Undula geht in die Nacht, Undula bei den Künstlern: Eine Frau sitzt mit entblößten Beinen auf einem Sofa, zu dem die Künstler mit ihren Werken pilgern; je näher sie treten, umso unterwürfiger ist ihr Verhalten, sie beugen Knie und Rücken, der vorderste betastet den linken Fuß, den auch sein Blick fixiert, wie ein heißes Eisen, während die Gehuldigte seine Zeichnung oder Graphik gelangweilt betrach 41