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tet, um diese dann — dies ist vorauszusehen — zu den anderen bereits am Boden liegenden Arbeiten hinabgleiten zu lassen. Auf dem Blatt „Auf Kythera“ - einer der stärksten Arbeiten des nahezu 30 Blätter umfassenden Zyklus - fährt eine Dame in tiefausgeschnittenem Kleid in einer Droschke vor, die aber nicht von Pferden, sondern von nackten Männern - von denen einer, die Hände wie zum Gebet gefaltet, ängstlich um sich blickt - gezogen wird. Sie werden von der Peitsche der Herrin angetrieben, und am Straßenrand sinken Männer in die Knie vor dieser ‚Erscheinung‘, deren Hintergrund einerseits ein herrschaftliches, schloßähnliches Gebäude, andererseits ein von Sturmwolken geschwärzter Himmel abgeben. Letzterer ist so angelegt, daß sich die als Zugtiere dienenden entblößten Männer rechts vorne als helle Flächen deutlich von ihm abheben. Auch in einer Bleistiftskizze für die Erzählung „Der Frühling“ ist eine Droschke das Hauptmotiv, und in der Graphik „Frühlingsfest“ wird ein bacchantisch-infernalischer Umzug von einem auf den Schultern eines Mannes reitenden Mädchen angeführt. Kutschen, Droschken und andere von Pferden gezogene Fuhrwerke tauchen seit frühester Kindheit in den Kritzeleien und Zeichnungen von Bruno Schulz auf. Gewiß gehörten Pferdewägen damals („Das Götzenbuch“ dürfte Anfang der Zwanziger Jahre entstanden sein) zum Alltag. Für Bruno Schulz hatte dieses Motiv jedoch den Stellenwert einer Metapher — ein Pegasus ohne Flügel taucht, nachdem er zu schreiben begonnen hat, als ‚Held‘ auch in den Zimtläden (polnisch Sklepy Cynamonowe) auf, und schon in seiner Schulzeit soll er einen Aufsatz über ein Pferd geschrieben haben, der derartiges Aufsehen erregte, daß das Heft mit der phantastischen Geschichte im Lehrerkollegium von Hand zu Hand ging und sogar vom Direktor mit Bewunderung gelesen wurde. Ich erstand das Buch um 10 Zioti und kehrte an meinen Tisch zurück. Die sich nun vor meinen Augen entrollende Bilderwelt, von der ich bislang nur gelesen hatte, hatte es in sich: Der Zyklus, der die Zerstörung des Ateliers des Künstlers im Privatbesitz überlebt hat, ist eine psychologisch genaue wie zugleich phantastische Darstellung eines Frauenkults, der sich vor allem in der Fetischisierung weiblicher Attribute und Bekleidungs-Objekte wie Strumpf, Strumpfband, Nachthemd, Stöckelschuh ausdrückt. Dazu kommt die drastische Schilderung von Wonne und Befriedigung in diesem ungleichen Verhältnis: die Frau als vergöttertes Objekt (= Götze), die ihre Verehrer verachtet, erniedrigt und quält, was diese wiederum nicht abstößt, sondern im Gegenteil noch stärker anzieht. Parallelen zum Fetischcharakter von Waren, Geräten und Insignien, die sich als Lebensleitbilder gebärden, kamen mir beim Betrachten dieser scheinbar anachronistischen Bilder in den Sinn, die eigentlich keine Geschichte erzählen, sondern Variationen ein und desselben Themas sind und den einzigen Zyklus ausmachen, den Schulz in einer Auflage von mehreren Mappen angefertigt hat. Wie dem von Jerzy Ficowski zum Druck vorbereitete und mit einführenden Worten versehene Buch (Titel des polnischen Originals: Xiega balwochwalcza, „Die zweitausendvierhundertzwanzigste Publikation des Verlags Interpress“!) zu entnehmen ist, hat Schulz zu jeder in Leinen gebundenen und von ihm selbst hergestellten Mappe ein individuelles, handgezeichnetes Titelbild angefertigt. Bild, Beschriftung und Anzahl der beigegebenen Blätter differierten von Mappe zu Mappe. 42 Die Graphiken, die auf den ersten Blick wie Radierungen aussehen, entstanden in einer — nicht nur im damaligen Polen — seltenen Technik, nämlich im Cliche-verre-Verfahren (was noch erstaunlicher ist, wenn man bedenkt, daß Schulz als Künstler Autodidakt war). Er beschreibt diese im wesentlichen von Camille Corot entwickelte Glasklischee-Technik zur Vervielfältigung von Zeichnungen in einem Brief an einen ehemaligen Studienkollegen der Lemberger Hochschule, Zenon Wasniewski, wie folgt: Man zeichnet mit einer Nadel auf einer schwarzen, das Glas bedeckenden Gelatineschicht, und die auf diese Weise erhaltene transparente Negativzeichnung behandelt man wie ein photographisches Negativ, d.h. man kopiert sie in einem photographischen Rahmen auf lichtempfindliches Papier, entwickelt, fixiert und wässert - eine Prodezur wie bei photographischen Abzügen — bedeutende Kosten — Arbeit auch. Beim Betrachten der Graphiken fallen Affinitäten zu Munch, Rops und Beardsley auf, wobei formal, in der Anordnung und Verteilung der hellen und dunklen Partien (letztere dominieren) sowie in der Vorliebe für Deformationen und Verzerrungen der Figuren, dem Betrachter vor allem Gemeinsamkeiten mit Goyas Radierungen in den Sinn kommen (die Frauen sind stets von schlanker und biegsamer Gestalt und wenn bekleidet, dann elegant, die Männer hingegen Gnome, hundeähnliche Kriecher oder Gestalten mit knochigen oder kahlen und zu großen Köpfen, deren Gesichter Gier, Unterwürfigkeit, dümmliche Bewunderung oder Furcht ausdrücken). Unübersehbar ist aber auch eine innere Verwandtschaft mit einem Zeichner, der zur selben Zeit wie Schulz im oberösterreichischen Innviertel an seiner Bilderwelt arbeitete und mit seinen Dämonen kämpfte: Alfred Kubin kommt vor allem in einigen seiner frühen Zeichnungen - Ausdruck seiner existentiellen Krise, die schließlich auch zu einer literarischen Arbeit, dem Roman „Die andere Seite‘ geführt hat — der Thematik (und vielleicht auch dem Charakter) von Schulz sehr nahe. (Später illustrierte Kubin gerne Texte von August Strindberg, der in der Darstellung der Frau als dämonisches, dem Manne fremdes Wesen der Einstellung Schulzens, zumindest wie sie in dem genannten Zyklus zum Ausdruck kommt, sehr nahe scheint.) Anregend für Interpreten sind nicht nur die mythologischen und kunsthistorischen Anspielungen in den Titeln der Blätter (Der Stamm der Parias, Auf Kythera, Susanna und die Alten), sondern auch der Name der ‚Heldin‘ des Zyklus — Undula. Er erinnert an Undine, an unda= Wasser, Welle, Flut, Wirbel etc., aber auch an eine der Hauptgestalten seiner Prosa, an das Dienstmädchen Adela. Da fast alle Personen in den Zimtläden und im Sanatorium zur Todesanzeige ihr ‚Vorbilder‘ inm Leben und Umfeld des Künstlers in Drohobytsch haben, identifiziert Jerzy Ficowski, der sich, wie seinem Vorwort zu entnehmen ist, auch um die Sicherstellung von jahrzehntelang verschollenen Zeichnungen und Graphiken verdient gemacht hat, Adela als Rachela, das Dienstmädchen im Elternhaus von Bruno Schulz. Rachela, Adela, Undula — die drei Namen entsprechen sich in der Anzahl der Silben und der Vokale. Die Entdeckung dieses abgegriffenen, nach Tabakrauch riechenden Büchleins im Vorraum des Lokals hat Unruhe in mein dilettierendes Forscherherz gebracht. Der Luftgeist Ariel, Führer der Elfen, ist auch hier präsent, selbst wenn man bei der Benennung des Lokals nicht Faust im Sinne hatte, sondern den Opferherd im Tempel von Jerusalem. Aber das ist wieder ein anderer Mythos...