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Das Tor zum Haus Nr. 9 in der wohltuend von den grellen Ikonen des Kapitalismus verschont gebliebenen Kanonicza Straße war versperrt: Das Museum des Malers, Dichters, Dramatikers und Bühnenbildners Stanislaw Wyspianski sei, so hieß es auf einem Zettel, wegen Renovierungsarbeiten geschlossen. Schade. Ich hatte einige Reproduktionen seiner Malereien gesehen und war neugierig gewesen, endlich die Originale und eine umfassende Darstellung seines breiten Schaffens und seiner künstlerischen Persönlichkeit zu sehen — soweit dies ein Museum überhaupt zu leisten vermag. Im Haus Nr. 5, in der sogenannten Cricoteka, hatte ich mehr Glück. An diesem Ort wird ebenfalls einer „Mehrfachbegabung“ gedacht, nämlich des 1915 im südpolnischen Dorf Wielopole geborenen, am 8. Dezember 1990, dem Tag der Generalprobe seines Stückes „Heute ist mein Geburtstag“, verstorbenen Dramatikers, Regisseurs und Malers Tadeusz Kantor. Ich öffnete die mit schwarzgestrichenem Eisenblech beschlagene Tür, und sah mich einer rothaarigen Dame gegenüber, die in der Enge eines winzigen Zimmers zwischen Bücherwand, Schreibtisch und Fotokopiergerät mit Aufräumarbeiten beschäftigt war. Selbstverständlich, die Foto-Ausstellung von Maurizio Buscarino über Tadeusz Kantor sei zu besichtigen, der Dokumentationsraum jedoch (in dem sich Bilder und Manuskripte befinden sollen, und wo der Interessierte sich auch Videoaufnahmen einiger Theaterproduktionen vorführen lassen kann) sei derzeit geschlossen. Eintritt brauche ich heute nicht zu bezahlen - ich solle mitkommen, die betreffende Ausstellung sei im Keller. Wir stiegen hofseitig von der Eingangshalle des gotischen Hauses über etwa ein Dutzend Treppen tiefer. Mit einem handgeschmiedeten Schlüssel öffnete sie eine wiederum eisenblechbeschlagene Tür, die den Zutritt in die mit roten Ziegeln eingewölbten Räumlichkeiten freigab. Wenn ich meinen Rundgang beendet hätte, sollte ich ihr dies melden, damit sie wieder zusperre, und schon war ich allein. Kantor, nomen est omen, der Sänger seiner höchst eigenwilligen Poesie, mit funkelnden weitaufgerissenen Augen, in Falten gelegter Stirn, das markante, magere Kinn nach vorne geschoben, der halboffene Mund ein schwarzer, zahnloser Keil, die schräg nach rechts oben ins Unendliche ausgestreckte linke Hand eine Diogonale aufreißend, auf der rechten Bildseite Schauspieler in Uniformen, alle in Schräglage, als tobe ein Sturm, ein bärtiger, schreiender Uniformierter in der rechten Bildhälfte hält den Leib einer lebensgroßen Stoffpuppe gegen seinen Körper gepreßt, der untere Teil des leblosen Wesens nimmt die Diagonale des gestreckten Armes des Meisters wieder auf, von dem man nicht erkennt, ob er als Regisseur oder als Mit-Schau-Spieler auf diesem Foto ‚verewigt‘ ist. Großartige Fotos, dachte ich, die Abstraktion der Schwarz- Weiß-Fotografie — das satte Schwarz, all die Grautöne und das schneehelle Weiß - ist das angemessene Mittel, die expressive Bühnensprache des Meisters zu ‚beschreiben‘, um, wenn auch bruchstückhaft, einen Einblick in seine Arbeitsweise zu gewinnen. Die Sparsamkeit seiner Bühnenbilder, das Spartanische, Düstere und Absurde seiner Produktionen schienen mir in diesen Fotografien adäquat eingefangen. Als seltene Requisiten entdeckt der Betrachter altes Mobiliar oder Teile davon, kaputte Fahrräder, zerbeulte Koffer, ausrangierte Tierskelette, Stoff- und Schaufensterpuppen, zerschlissene Regenschirme und kaputte Waffen. Hatte Kantor nach dem Krieg vor allem absurde, vom Expressionismus beeinflußte Werke von Witkiewicz inszeniert, arbeitete er ab 1975 mit eigenen Stücken. Es gelang ihm, mit seiner künstlerischen Arbeit die Ängste und Erwartungen der Polen zu berühren, das Konstrukt der Familie als Sitz von Hoffnungen, Träumen und Konflikten darzustellen. Seine Theaterproduktionen „Die tote Klasse“ (1975), „Wielopole, Wielopole‘“ (1979), „Verdammt seien die Künstler“ (1984) und „Nie mehr komme ich hierher zurück“ (1988) waren derart erfolgreich, daß er mit seinem Ensemble Cricot 2 (der Name wurde in Anlehnung an das vor dem 2. Weltkrieg bestehende gleichnamige Krakauer Künstlertheater gewählt) nicht nur in Europa, sondern auch in Amerika, Asien und Australien gastieren durfte. (Ob Cricot 2 auch in Österreich gastierte, ist mir nicht bekannt). Im Buch „Polnische Malerei der Gegenwart“ - „Die tausensechshundertzwanzigste Publikation des Verlags Interpress“ — (ohne Angaben zu Erscheinungsjahr und -ort außer „Polen“, wahrscheinlich 1974 oder 1975), das ich 1980 (als mich die polnische Plakatkunst sehr interessierte) von einer Sowjetunion-Reise mit nach Hause gebracht habe, wird Kantor an mehreren Stellen angeführt. Ein Schwarz-Weiß-Foto dokumentiert beispielsweise das ‚Happening‘ „Die Anatomiestunde des Dr.Tulp“ aus dem Jahr 1969, das von dem gleichnamigen Bild Rembrandts ausging und dieses inszenierte, was nicht nur bei der Kunstkritik, sondern auch bei der Polizei einiges Aufsehen erregt hat. (Ähnlich verfuhr er mit Gericaults „Floß der Medusa“.) Der Begriff „Happening“ wurde von Allan Kaprow eingeführt, und zwar bei der ‚Veranstaltung‘ „18 Happenings in 6 Parts“, 1959 in der New Yorker Reuben Gallery.) Jean-Jacques Lebel hat Anfang der sechziger Jahre, als er den revolutionären ‚Situationisten‘ noch nahestand, diese (die klassische Sparteneinteilung unterlaufende) Kunstform in Europa 43