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atmosphäre. So im Cafe Singer in der Estery-Gasse in Kazimierz, in dem ausschließlich Kerzen für die Beleuchtung des Raumes sorgen. Die Einrichtung besteht großteils aus alten Singer-Nähmaschinen, die als Tische dienen. Auch in der Michalik-Höhle (Jama Michalika) - angeblich dem berühmtesten Cafe Polens, ein bedeutender Treffpunkt und Ort der Diskussion für die Künstlerszene Krakaus um die Jahrhundertwende — ist nicht gut Zeitung lesen. Durch die Farbglas-Fenster dringt nur gedämpftes Licht, und die Jugenstil-Lampen leuchten dumpf in Violett und Dunkelgrün. Im Literaturcafe, zwischen Cricoteka und Stanislaw-Wyspianski-Museum in der Kanoniker-Gasse, in dem auch die Nobelpreisträgerin Wislawa Szymborska verkehrt, hat man zwar immer Gesellschaft in Gestalt einer getigerten Katze, die sich von jedem Gast streicheln läßt, doch aus dem Radio dringt konturloser Musikbrei. Der Blick aus dem großen gotischen Fenster in den Garten auf eine alte Linde mit den schwarzen Vogelformen von Dohlen und Krähen entschädigt dafür nicht. Einmal verschlug es mich zu später Stunde in die Straße des hl.Thomas, und ich landete im Café Larousse. Nicht daß man hier französisch wie ein Lexikon hier spricht, sondern die Wände des winzigen Lokals sind mit den vergilbten Seiten einer uralten Ausgabe des Larousse tapeziert. Am wohlsten gefühlt habe ich mich im Café Noworolski in den Tuchhallen, einem ruhigen, mit Polstermöbeln ausgestatteten Cafe ohne Mu sikberieselung, das mich an das Cafe Florian in Venedig erinnerte. Es besteht aus fünf im Art-Deco-Stil eingerichteten Zimmern gleicher Größe, die in einer Reihe angeordnet sind. Im letzten Raum befindet sich an der dem Durchgang gegenüberliegenden Wand ein Spiegel, in den eine Uhr eingeschnitten ist. Auf der schwarzen Scheibe mit Goldrand stehen die Zeiger auf 15 Minuten vor 12 Uhr; der Sekundenzeiger zittert einige Millimeter vor dem Minutenzeiger und kommt nicht vom Fleck. Immer von neuem setzt der nadelschlanke Sekundenzeiger vergeblich an, seinen breiteren Bruder zu überspringen. Man möchte natürlich gerne wissen, seit wann die Zeit stehengeblieben ist. Draußen in der orangefarbenen Dämmerung bewegen sich die Passanten als dunkle Schatten, in die die Gesichter als helle Flecken eingezeichnet sind. Ich notiere: Im Polnischen liegen Welt und Licht nicht weit auseinander: swiat — swiatlo. Tadeusz Kantor: Populäre Ausstellung (Ausschnitt), 1963 45