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„Noch während ich im Bauch meiner Mutter lag, war mir nicht wohl zumute“, so beginnt die witzige Geschichte von Esther Singer Kreitman, in der ein Embryo skeptisch von seiner Geburt und den ersten Tagen seines Lebens als Säugling berichtet. Im Spannungsfeld von Tradition und neuen Ideen ist die Erzählung von Dora Schulner angesiedelt. Rejseles Hochzeit manifestiert die sture Haltung eines Vaters, der seine Tochter in eine unglückliche Ehe zwingt. Während umgekehrt eine von der Mutter streng gehaltene Tochter nach anfänglichem Widerstand der Mutter dennoch Brautjungfer sein darf. Gleich interessiert sich ein Bursche fiir das Aschenputtel — poetisch und subtil erzählt Fradel Schtok. Emigration, ein strapaziertes Wort, glücklich all jene, die dieses Schicksal nicht erleben mußten. Berichte der Betroffenheit von jenen zu lesen, die dazu gezwungen worden waren, ihre osteuropäische Heimat zu verlassen, den Atlantik zu überqueren, um zu überleben, und nun davon erzählen, daß Träume mit der Realität wenig gemeinsam haben, eröffnen dem Leser Erfahrungen, die ihm ein anderes Schicksal erspart hat. Den Bestrebungen, in der neuen Welt Fuß zu fassen, steht die Sehnsucht nach der alten Heimat entgegen. Literarische Kritik ist in diesem Zusammenhang ohne Belang. Vielmehr sollen all die schrecklichen Erfahrungen von Verfolgung und Auswanderung für künftige Generationen dokumentiert werden. Wenn man als Lesender involviert ist in die familiäre Entscheidung, wer sich freiwillig opfert, um in den sicheren Tod zu gehen, um den anderen Familienmitgliedern wenigstens die Hoffnung des eigenen Überlebens zu gewähren vor nazistischer Verfolgung (in Rachel Korns Der letzte Weg), spürt man die Gegnerschaft der einzelnen Familienmitglieder am eigenen Leib. Dermaßen geht die Literatur unter die Haut, und man muß das Buch aus der Hand legen, um das Gelesene zu verarbeiten, um klarzukommen mit Emotionen und Schicksalen, die nicht erfunden, sondern tatsächlich erlitten wurden. Indem eine jüdische Frau ihren handgreiflichen Ehemann verläßt, um mit einem Araber zusammen zu leben, spürt man das Konfliktpotential, das dem Staat Israel in die Wiege gelegt wurde, ist Ihre Geschichte von Chavah Ssluzki-Kesstin ein Paradigma für Gegenwart und Zukunft. Während die reiche Jüdin in der Erzählung von Kadja Molodowsski ihr Heim verläßt, um in Israel ein Haus mit sieben Fenstern zu erbauen, keimt Hoffnung auf, die in den verdichteten Prosastücken von Rikudah Potasch realisiert erscheint. Manfred Chobot Aus der Finsternis geborgen. Erzählungen jiddischer Autorinnen. Auswahl der Texte: Frieda Forman, Ethel Raicus, Sarah Silberstein Swartz, Margie Wolf. Aus dem Jiddischen übersetzt von Armin Eidherr. Salzburg: Otto Müller Verlag 1999. 344 S. OS 360,— 58 Mit dem Wischlappen durch die Exilgeschichte Zu Guy Sterns Sammelband mit gedruckten und ungedruckten Beiträgen Dr. Otto von Habsburg nannte in einem kürzlichen Interview des ORF es eine „wahrhaftige Heldentat“, Hitlers „Mein Kampf“ längst vor 1933 schon gelesen zu haben, „wegen des gräßlichen Stils“. Daß diese Stil reinster Barbarei den germanisierten Teil Europas für sich begeistern konnte und weit in das romanisierte und slawophile Europa die Mordfackel des Rassismus und Antisemitismus schleuderte, bleibt den Historikern als Thema noch lange erhalten. Dem deutsch-amerikanischen Literaturhistoriker Guy Stern, geboren 1922 in Hildesheim und mit 15 Jahren in die Emigration getrieben, ist es Anlaß, in der Dresden University Press unterm Titel „Literarische Kultur im Exil — Literature and Culture in Exile“ eine Sammlung seiner Essays aus der Exilforschung herauszugeben, die noch immer mit Neuigkeiten aufwartet und obendrein, sowohl auf deutsch als auch auf Englisch, in einem angenehm lesbaren Stil vorliegt. Läßt man Sachkenntnis beiseite und liest die 400 Seiten sozusagen naiv, wird von dieser Naivität am Ende der Lektüre schwerlich etwas übrig geblieben sein, ohne daß man „alles“ weiß. Das kann ein in erster Linie Nordamerika und die Bundesrepublik Deutschland, mehr im Hintergrund Österreich und die DDR zum Inhalt nehmendes Buch nicht leisten wollen, wenngleich die Gliederung in drei Hauptabschnitte größtmögliche Breite verspricht. Methoden, Perspektiven und Theorien stehen im ersten Teil, Leitthemen, Autorenprofile, Werkstrukturen im zweiten Teil im Mittelpunkt profunder Untersuchungen. Teil 3 unternimmt die Summierung bei derzeitigem Stand der Rezeption, Wirkung, Ausstrahlung der exilierten Intellektualität unter besonderer Hinwendung zum Echo des Exils in der amerikanischen Literatur. Hört sich das alles auch höchst akademisch an, so fehlt es in den einzelnen Beiträgen nicht an jener Lebhaftigkeit und Farbe, die das Buch zum Lese-Ereignis werden lassen. Wie gescheit sich auch „strikt pure“ Germanistik durch Texte der Exil-Literatur wühlen mag, schafft sie bei allem Respekt es doch nie so ganz treffend wie einer der am Zeitgeschehen Beteiligten. Den zahlreichen Fußnoten ist immer wieder zu entnehmen, wie die Rührigkeit, mit der Guy Stern schon vor dem ersten Stockholmer Exil-Literatur-Kongreß 1969 seine Recherchen betreibt, ihn auf neue Funde stoßen läßt, die dem Begehren nach Verstehen, nach Aufschluß geschichtlicher Unerträglichkeiten Mosaiksteine zum Weiterbauen liefern. Allein das Lotte Lenya gewidmete Kapitel, mehr „Österreich“ enthaltend als andere, weist in besonderer Weise auf die Brecht/Kurt Weill-Forschung hin, der sich inzwischen eine Stiftung widmet, an deren Arbeit Stern nicht unmaßgeblich beteiligt ist. Darin finden sich ebenso interessante ÄuBerungen wie in den Betrachtungen zum Interview mit dem Sohn von Felice Bauer in Verbindung mit Franz Kafka. Bedeutend ist zweifellos auch die Beschäftigung mit einer „Trivial“-(Kinderbuch-)Autorin wie der ermordeten Else Ury. Den Stimmen der Frauen ist zwar aufrichtig Raum gewährt, doch findet man im Aufsatz „Wahl und Qualverwandtschaften: Liebesbeziehungen zwischen Juden und Nicht-Juden in der deutsch-jüdischen Nachkriegsliteratur“ den wichtigen, 1960 bei Claassen erschienen Roman Erich Frieds „Ein Soldat und ein Mädchen“ ausgelassen. Es wäre billig, Auslassungen aufzuzählen, zumal mutig US-nationale Selbstkritik zu lesen ist, wie u. a. über den Schutz, den der CIA dem berüchtigten Franzosen Barbie lange gewährte. Die Autobiographisches aus Sterns US-Army-Zeit enthaltenden Kapitel vergegenwärtigen nochmals die gigantische Kriegsanstrengung, die nötig war, den eingangs dieser Rezension erwähnten „gräßlichen Stil“ von Europas Landkarte herunterzukriegen. Sind bei der Diskussion bereits bekannter Themen der Exilforschung Sterns Ausführungen immer wichtige Ergänzungen, bietet er hier ein Bild aus erster Hand in ganzer Komplexität. Es liegt im Wesen der Dinge, daß die zur Sprache gebrachten Probleme insgesamt mit Autoren und Werken verbunden sind (der Index umfaßt 18 Seiten mit Namen!), die der derangierten Welt des europäischen jüdischen Mittelstandes entstammen. Daß dessen Angehörige sich nicht zu gut waren, wie Stern im Anhang von sich selbst beschreibt, mit Wischlappen und Kellnerserviette gegen die soziale Misere anzukämpfen, unter der die meisten Exilanten litten, ändert nichts daran, daß der Mittelstand wortführend ist. Kurz nachdem Guy Stern, der am Wiener Erich-Fried-Symposium teilgenommen hatte, mit seiner Frau wieder nach Detroit abflog, fand ich in einer Buchhandlung den Bildband „Die jüdische Arbeiterbewegung“, verlegt nach Ersterscheinen auf Englisch nun in Hamburg. Der Buchhändler kommentierte: „Wir hören stets vom jüdischen Geistesleben und vom Cafe-Häusern, aber wieviel Arbeiter aus Wien in die Judenvernichtungslager gehen mußten, das ist noch nicht erforscht.“ Fänden sich dafür Historiker vom Format eines Guy Stern, stünden noch weitere schwerwiegende Entdeckungen bevor. Arno Reinfrank Guy Stern: Literarische Kultur im Exil. Gesammelte Beiträge zur Exilforschung/Literature and Culture in Exile. Collected Essay on the German-Speaking Emigration after 1933 (1989-1997). Dresden: University Press 1997, 428 S. 6S 554,-/DM 78,-/SFR 70,50. The Nahum Goldman Museum of the Jewish Diaspora Tel Aviv/Museum der Arbeit Hamburg: Arbeiter und Revolutionäre. Die jüdi