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wohl verdient. Als in den Kriegsjahren und vor allem in der Nachkriegszeit der Hunger in den Städten regierte, sah sich die Schuldirektorin vor völlig neuen Aufgaben. Sie eröffnete in Wien und bald sogar in Berlin Speisehäuser, in denen sich jeder für geringes Geld satt essen konnte, vor allem mit Gemüse freilich, da auch Genia Schwarzwald trotz Zuwendungen aus hohen und höchsten Kreisen nur selten Fleisch und Fett auftreiben konnte. Alkohol gab es prinzipiell nicht, doch waren den Speisesälen gemütliche Lesezimmer angegliedert. Die Ausstattung dieser Gaststätten entwarf Adolf Loos: in nüchternem Weiß, aber mit Blumen auf jedem der kleinen Tische. Etwa um dieselbe Zeit rief Genia Schwarzwald zu Spendenaktionen auf, um arme Wiener Kinder während der Ferien aufs Land schicken zu können. Sie erhielt innerhalb kurzer Zeit eine Million Goldkronen und konnte alsbald Tausende zumeist unterernährte Kinder in ihren Ferienheimen unterbringen. Genia Schwarzwalds Idee wurde bald von vielen Organisationen aufgegriffen und gelangte besonders in der Nachkriegszeit zu lebensrettender Bedeutung. Vermutlich aber hat die großteils antisemitische Öffentlichkeit übelgenommen, daß Genia Schwarzwald die erste Initiatorin dieser karitativen Unternehmungen war. Das Ende Als der Antisemitismus im März 1938 zur offiziellen Staatspolitik wird, ist Genia Schwarzwald in Dänemark bei einer alten Freundin, der Schriftstellerin Karin Michaelis. Von dort fährt sie nicht nach Wien zurück, sondern nach Zürich, dem Ausgangspunkt ihrer Karriere. Nach bangen Monaten gelingt es auch Hermann Schwarzwald in die Schweiz auszureisen. Er stirbt bereits im August 1939, Genia Schwarzwald nur ein Jahr danach. Kampflustige Schuldirektorin, Gründerin von wohltätigen Einrichtungen, Freundin bedeutender Künstler: Genia Schwarzwald war wohl vor allem ein Organisationsgenie, begeisterungsfähig und dadurch befähigt, andere zu begeistern. In chronologischer Abfolge ist einer Persönlichkeit wie dieser nicht beizukommen. Renate Göllner tat deshalb gut daran, ihr Buch in Sachgebiete zu gliedern, die umfassend dargestellt werden. Durch Kapitel wie „Genia Schwarzwald, Gottfried Keller und die jungen Mädchen“ kreist sie ihre Heldin ein und kommt zu dem Schluß, daß sie, die so viel für die Emanzipation der Frauen getan hat, der feministischen Bewegung eher fremd gegenüberstand. Sie war eine Praktikerin und hielt wenig von Programmen und Theorien. Obwohl ihre Reformschule der sozialdemokratischen Schulreform nahestand und von Otto Glöckel geschätzt wurde, legte sie Wert auf Distanz zu allen politischen Parteien. Vielleicht hat es auch darum so lang gedauert, bis man sich ihrer Person und ihres Werks erinnerte. Herta Blaukopf Renate Göllner: Kein Puppenheim. Genia Schwarzwald und die Emanzipation. FrankJurt /M., Berlin, Bern u. a.: Peter Lang 1999. 230 S. ÖS 467,- (Europäische Hochschulschriften. Reihe III: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften. Bd. 853). Susanne Bock — Leben in den Wirren der Zeit 1920-1946 Griinde, Erinnerungen aufzuschreiben, gibt es viele. Der Wunsch, dem eigenen Leben Bedeutung und Rechtfertigung zu verleihen, indem man es zu einem abgerundeten Ganzen mit kleinen Schönheitskorrekturen formt, gehört ebenso dazu wie der Versuch, aufzuklären oder zu überzeugen. Das Genre bleibt jedenfalls weit unter seinen Möglichkeiten, wenn man sich nicht der eigentlichen Bedeutung des Wortes „Erinnern“ bewußt wird. Mit „sich (etwas) ins Gedächtnis zurückrufen“, „aufmerksam machen“ oder „mahnen“ läßt sich in etwa die etymologische Spannweite dieses Begriffs skizzieren und gleichzeitig wird so deutlich, worin der eigentliche Sinn biographischer Aufzeichnungen liegen kann: Menschen, Ereignisse dem Vergessen zu entreißen, vor dem Verlieren zu bewahren, ihnen in der Gegenwart Platz zu geben. Natürlich haben es dabei berühmte, bedeutende Männer und Frauen leichter, ihr Leben gilt als erinnernswert, oft steckt in der Erinnerung an ein herausragendes Leben die indirekte Aufforderung, seinen Vorbildcharakter zu erkennen und zu würdigen. Doch was ist mit den Millionen kleiner, durchschnittlicher Leben? Lohnt sich hier ein Erinnern? Oder umgelegt auf Exil und Vertreibung: wie aussagekräftig ist die Erinnerung an eines der ungefähr 130.000 „durchschnittlichen“ Exilantenleben im Vergleich zu den Schicksalen prominenter Österreicher und Österreicherinnen, deren Bedeutung sowohl die Größe des Verbrechens als auch die des Verlustes so anschaulich vor Augen führen kann? Eine Antwort darauf gibt Susanne Bock mit ihren Aufzeichnungen „Mit dem Koffer in der Hand. Leben in den Wirren der Zeit 1920-1946“, sie widmet ihr Buch „all jenen (...), die weder vor der Vertreibung berühmt, prominent, reich oder besonders begabt waren und um die sich daher nach dem 2. Weltkrieg kaum irgend jemand besonders gekümmert hat, eben weil sie auch dann weder besonders berühmt, erfolgreich oder sonst bemerkenswert geworden waren. Sie wurden nach Ende des Krieges nicht bevorzugt, ja nicht einmal gut behandelt, ihren Nöten begegnete man mit Unverständnis, sie wurden ignoriert oder ins Lächerliche gezogen. Weder wurden sie Ehrenbürger, noch verlieh man ihnen Orden, Medaillen oder Ehrendoktorate. Warum denn auch? Bei ihnen, diesen unbedeutenden, wenig bemerkenswerten Menschen, war es unnötig auch nur zu bedauern, daß sie Österreich verloren gegangen waren.“ Gegen diese so erfolgreich auch von offizieller Seite angewandte Praktik, für die das Unbedeutendsein das Vergessen geradezu herausfordert und begründet, gegen diese Art Vernichtung stemmt sich Susanne Bock mit den Erinnerungen an ihr eigenes „unbedeutendes“ Leben. Dieses Leben beginnt 1920 in Wien. Beide Eltern stammen aus jiidischen Familien, die Mutter ist Modistin und der Vater bis zum Ende der Monarchie Berufssoldat. Die Ehe der Eltern zerbricht nach ein paar Jahren, und Susanne lebt mit der Mutter, die zeitweise einen Hutmodesalon betreibt, in ärmlichen Verhältnissen in der Seegasse im 9. Bezirk. Kindheit und Jugend eines jüdischen Mädchens bis 1938: obwohl die Mutter Alleinerzieherin ist, erfährt Susanne die Geborgenheit einer großen Familie. Volks- und Hauptschule in der Glasergasse, Mittelschule im 2. Bezirk, Vereinsgasse. 1932 nimmt die Mutter Untermieter auf, es handelt sich dabei um Mitglieder der illegalen jugoslawischen KP, neben vielen anderen ist der spätere Marschall Tito immer wieder zu Gast. In diesem Jahr wird die Tochter Mitglied der Roten Falken und 1936 deswegen für ein paar Tage verhaftet. Die Matura kann sie 1938 nur mehr unter größten Schwierigkeiten ablegen, ein paar Wochen später beginnt ihre Flucht am Wiener Südbahnhof Richtung Italien. Doch Susanne Bock gibt sich nicht damit zufrieden, die Chronologie ihres Lebens festzuhalten. Ganz so wie Erinnern selten chronologisch ist, vielmehr sich eher assoziativ um bestimmte Themen rankt, bilden die vier großen Kapitel dieses Buches Schwerpunkte, anhand derer die Autorin ihr Leben erzählt. Vielfach ineinander verzahnt, tauchen einzelne Geschehnisse unter einem anderen Gesichtspunkt erneut auf. Der erste Teil „Bahnhöfe und Glücksfälle‘“ beschreibt lebensgeschichtliche Wendepunkte, die oft und nicht erst mit dem Beginn des Exils an Bahnhöfen ihren Ausgang genommen haben. Hier wird vom Weg ins Exil über Italien nach Großbritannien ebenso erzählt wie von der über die Zwischenstation Tschechoslowakei erfolgten Rückkehr nach Wien. „Erlebte Politik“, der zweite Teil, zeigt, daß ein Leben unbeeinflußt von politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen nicht möglich ist, hier ist Platz für Kindheit und Jugend im politisch spannungsgeladenen, vom Antisemitismus gezeichneten Wien vor 1938. Von der eigenen Politisierung ist ebenso die Rede, wie von der Flucht nach England, dem Aufenthalt dort, den privaten und politischen Kontakten zu anderen Exilanten, v.a. zur tschechischen kommunistischen Partei und den Versuchen, eine berufliche Existenz zu gründen. Die noch nicht Zwanzigjährige beginnt in Besitz eines Nurse Trainee Permit eine Ausbildung zur Krankenschwester, übersiedelt kriegsbedingt von Bristol nach Llangollen in Nordwales, wo sie durch Vermittlung ihres Freundes Arbeit in einem Hostel des Czech Refugee Trust Fund bekommt. Dort 61