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lernt sie auch ihren ersten Mann, einen Spanienkämpfer und Kommunisten aus der Slowakei kennen, heiratet 1940 und geht mit ihm nach London. Das Gesuch um Aufnahme in die Tschechoslowakische Kommunistische Partei wird mit der Begründung, Susanne Bock sei zu bürgerlich, abgelehnt. Als ihr Mann in die Tschechoslowakische Armee eintritt, bleibt Susanne Bock vorläufig in London, um schließlich nach Oxford zu gehen, wo ihre Mutter mittlerweile lebt. Dort wird sie Fabriksarbeiterin, belegt Abendkurse in Chemie und Physik, nimmt eine Stelle als Laborantin in einem Industrieunternehmen in Slough an und wird schließlich Mitarbeiterin einer metallurgischen Zeitschrift in London. 1945 folgt sie ihren Mann in seine tschechoslowakische Heimat, nach Zilina. Im dritten und vierten Teil „Die Romantik und wie das Leben so spielt“ und „Heimkehr“ ist die fast unglaubliche romantische Liebesgeschichte zwischen Susanne Bock und ihrem Jugendfreund sowie späteren zweiten Mann Wolfgang Thema der Aufzeichnungen. Vom Ehepaar Bock, zu diesen Kapiteln steuert auch der Ehemann seine Aufzeichnungen bei, als „unser Drei-Kreuzer-Roman“ bezeichnet, besitzt die Geschichte wirklich alle Ingredienzien dieser Gattung: spektakulärer, tragischer historischer Hintergrund, unfreiwillige Trennung, aber auch amouröse Umwege der Helden, ein nur unter Gefahren mögliches Wiedersehen, wieder zwangsweise Trennung und schließlich das happy end! Faszinierend daran sind aber nicht nur die abenteuerlichen Geschehnisse und Zufälle, sondern daß in diesem wahren „Roman“ Liebe und der Glaube an eine gemeinsame Zukunft durch den Naziterror nicht zerstört werden konnten, wodurch diese Geschichte auch zu einer des Widerstandes, des sich Widersetzens wird. Es entsteht aber auch das Bild einer sich emanzipierenden Frau, die erkannt hat, daß es für eine harmonische Partnerschaft nicht notwendig ist, ihre Persönlichkeit und ihre Bedürfnisse vollkommen unter die des jeweiligen Partners zu stellen. Folgt man dem Bericht der Autorin über diese Spanne ihres Lebens, ein Bericht, der übrigens nie den kritisch-distanzierten Blick auf die eigene Person verliert und daher auch in privaten Dingen vor jeder Peinlichkeit gefeit ist, so kann der Arroganz, mit der ein „unbedeutendes Leben“ oft zur Seite geschoben wird, mit einem von der Autorin an den Anfang ihres Buches gestellten Gedanken Hannah Arendts begegnet werden: „Die Feststellung, daß es für die gegenwärtige und künftige Kultur Europas ein Fehler kaum abschätzbaren Ausmaßes war, durch die Jahrhunderte all jene genialen Einsteins und Billy Wilders zu vertreiben, bleibt hohles Lamentieren, solange es nicht gelingt zu vermitteln, daß ‚es ein weit größeres Verbrechens war, den kleinen Kohn von nebenan zu ermorden, auch wenn er kein Genie war‘.“ Ulrike Oedl 62 Susanne Bock: Mit dem Koffer in der Hand. Leben in den Wirren der Zeit 1920-1946. Wien: Passagen Verlag 1999. 276 S. OS 398,7/DM u. SFr 57,„From Anschluss to Albion“ Elisabeth M Orsten wuchs zusammen mit ihrem Bruder Georg in Wien bei ihrer wohlhabenden Familie in Wien auf. Fünf Monate nach ihrem zehnten Geburtstag marschierte Hitler in Österreich ein. Sie war zwar katholischen Glaubens, aber nach Nazi-Kriterien jüdisch. 1939 mußten sie und ihr Bruder zu Gastfamilien nach England fahren, während der Vater, ein Arzt, versuchte, sich anderswo eine neue Existenz aufzubauen. Elisabeth wurde von ihrem Bruder getrennt und kam zu einer englischen Familie, ihrer Tante Evelyn C. und deren drei Töchtern. Nun mußte sie in eine englische Schule gehen und eine neue Sprache lernen. Beim Abschied von Wien hatte ihr ihr Kindermädchen ein Tagebuch geschenkt, das sie während ihrer Emigrationszeit auch führte — zuerst deutsch, dann englisch. Elisabeth M Orsten las dieses Tagebuch 50 Jahre später wieder und schrieb ihre Erinnerungen nieder bis zur Ankunft in den USA, 1940, wo sie mit ihren Eltern und ihrem Bruder wieder vereint war. Die Autorin lebt als emeritierte Universitätsprofessorin in Kanada. In ihrem Buch stellt sie die Zeitgeschichte aus der Perspektive eines Kindes dar, das behütet aufwuchs und plötzlich in eine völlig veränderte Umgebung gestoßen wurde. Was sie zu erzählen hat, ist symptomatisch für das Schicksal eines Flüchtlingskindes. Orsten schreibt lebendig und anschaulisch, und es ist zu hoffen, daß sie neben ihren fachlichen Beiträgen Zeit findet für weitere Bücher. Carla Kraus Elisabeth M Orsten: From Anschluss to Albion. Memoirs of a refugee girl 1939-1940. Cambride: Acorn Editions 1998. 114 S., mit Abbildungen. £ 14,99 Wege jiidischer Apotheker In einem pharmazeutischen Fachverlag hat der deutsche Apotheker Frank Leimkugel das Schicksal der deutschen und österreichischen Apotheker als einen winzigen Teilbereich der Shoah beschrieben. Das materialreiche Buch basiert auf einem sich im Aufbau befndenden Archiv von 450 Lebensläufen, Fragebögen und weiteren biographischen Materialien. Interessant ist, daß in Deutschland und Österreich seit Beginn des Jahrhunderts besonders viele jüdische Frauen Pharmazie studierten. Eine der ersten österreichischen Apothekerinnen wird auch in André Kaminskis (nicht Kaminsky, wie Leimkugel schreibt) autobiographischem Roman „Nächstes Jahr in Jerusalem“ geschildert. In dem Kapitel über jüdische Apotheker in Österreich beschreibt Leimkugel auch die besonders brutalen Arisierungen der jüdischen Apotheken in Wien. Der Abschnitt über die österreichischen Remigranten kommt zu dem vielleicht erstaunlichen Ergebnis, daß die Gesetzgebung in Österreich im Gegensatz zu Deutschland die Restitution der Apotheken, von denen jede vierte zurückgestellt wurde, sehr erleichterte. Sein Buch ist eine mustergültige historische Studie über die Vertreibung und Ermordung einer einzelnen Berufsgruppe, der noch viele Arbeiten über andere Berufe folgen müßten. E.A. Frank Leimkugel: Wege jüdischer Apotheker. Emanzipation, Emigration und Restitution: Die Geschichte deutscher und österreichisch-ungarischer Pharmazeuten. 2., erweiterte Auflage. Eschborn: Govi Verlag 1999. 248 S. ÖS 423,Desider Stern gestorben Im Alter von 93 Jahren starb am 29. April 2000 in Wien Desider Stern, dem die Erforschung der österreichischen Exilliteratur zu großem Dank verpflichtet ist. Stern, der aus Breslau stammte, seit 1949 in Wien lebte und hauptberuflich Esspresso-Kaffeemaschinen erzeugte, hat 1967 im Wiener Künstlerhaus im Rahmen der Wiener B‘nai B‘rith mit einigen wenigen Mitarbeitern, unterstützt von zahlreichen öffentlichen Stellen Österreichs, eine neuntägige Buchausstellung über „Werke von Autoren jüdischer Herkunft in deutscher Sprache“ organisiert. (Wer mehr über die Ausstellung wissen möchte, kann über sie nachlesen in eben im Berliner Philo Verlag erschienenen Buch „Die vierte Gemeinde“, S. 324-328.) Der Katalog, besonders die zweite und dritte Auflage mit ca. 700 Biobibliographien, ist bis heute ein wichtiges und pionierhaftes, wenn auch keineswegs vollständiges Nachschlagewerk. Die Ausstellung wurde auch in fünf deutschen Städten und in Südamerika gezeigt, der Katalog auch ins Spanische übersetzt. 1994 wurde Stern mit dem Österreichischen Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst 1. Klasse ausgezeichnet. Sein Archiv ist seit 1994 in der Exilbibliothek im Wiener Literaturhaus allgemein zugänglich. Sein Wunsch, eine überarbeitete vierte Auflage des Katalogs herauszubringen, blieb unerfüllt, da er 1990 erblindete. Die Zeiten, daß die B'nai B‘rith derart beispielhaft jüdische Kultur tradiert und repräsentiert hat, sind allerdings längst vorbei. E.A.