OCR
Daniel Dothans ‚Stille der Steine“ Der Enkel des aus Wien gebürtigen berühmten israelischen Malers und Architekten Leopold Krakauer und seiner Frau, der Malerin Grete Wolf-Krakauer, der Tel Aviver Schriftsteller und Musiker Daniel Dothan, hat in dem vom Verlag als Roman bezeichneten Buch „Die Stille der Steine“ ein sensibles und faszinierendes, zwar sprachlich fiktionalisiertes, aber historische Begebenheiten schilderndes Porträt der aus Mitteleuropa stammenden Intellektuellen rund um seine Großeltern vorgelegt. Dothan schrieb damit ein zugleich überaus poetisches, originelles und wichtiges Buch, das basierend auf den von ihm eingesehenen Werken und Dokumenten authentisch die Gefühle und Gedanken der handelnden Personen wiedergibt. Leider übersah der Verlag, daß es sich nicht um die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, sondern um die „Frankfurter Zeitung“ handelte, für die der von Dothan erwähnte Leopold Weiss schrieb. (Weiss stammte aus einer streng orthodoxen Wiener jüdischen Familie, trat zum Islam über, schrieb eine lesenswerte Autobiographie und ist eine der vielen längst vergessenen, aber erinnernswerten Persönlichkeiten des Wiener Judentums.) Zu den vielen Charakteren des Buches gehören Else Lasker-Schüler, deren Grabstein Leopold Krakauer entwarf, und Dr. Abraham Sonne, der Freund Elias Canettis und Hermann Brochs, der sich noch nicht daran gewöhnt hat, „daß er in Jerusalem im Cafe Wien“ (das es wirklich gab, E.A.) „und nicht in Wien im Museums-Cafe“ saß. Er „verfügte über ein absolutes Gedächtnis“ und „kannte die Hebräische Bibel auswendig.“ Über den revisionistischen Dichter Uri Zwi Grienberg (der in allen Literaturgeschichten und Nachschlagwerken als „Greenberg“ bekannt ist) schrieb Dothan: „Seine Arterien waren an die Blutströme angeschlossen, die den alten Kontinent durchfurchten. Das Blut Europas schrie in seinen Ohren und ließ ihn verstummen.“ Über Wolfgang von Weisl (im Buch leider „Weisel‘“ geschrieben) heißt es: „ein Wiener Arzt und Journalist, hauptsächlich Abenteurer.“ Was die Übersetzung von Helene Seidler betrifft so stören leider Bezeichnungen wie „Zionistenrat“ oder „Nationales Haus der Bücher“ (für Nationalbibliothek) diesen ansonsten so schönen Text. E.A. Daniel Dothan: Die Stille der Steine. Gerlingen: Bleicher 1998. 295 §. OS 291,-/ DM 39,80 Hanna Blitzer Sanary sur Mer Ich hatte den Vorzug, bei meiner Teilnahme an der 9. Tagung der ,,Gesellschaft fiir Exilforschung“ Frauen erinnern, die am 22./ 23. Oktober 1999 in Berlin an der Alice Salomon Fachhochschule für Sozialarbeit und Sozialpädagogik, stattfand, ein wertvolles Buch von dem Herausgeber Prof. Koch zu erhalten: „Literarisches Leben, Exil und Nationalsozialismus“. Unter den vielen informativen Berichten weckte der Artikel von Ulrike Ehrhard „Literarisches Exil in Sanary sur Mer“ mein besonderes Interesse. Schon die Einführung — „bis 1933 und mit Einschränkung bis 1938 kann man Sanary noch als einen Ort an der Riviera, an der Cöte d’Azur bezeichnen. Spätestens ab Juni 1940 jedoch wurde Sanary ein Ort, der in der Nähe von Marseille liegt. Marseille wurde der letzte Schlupfwinkel für die Emigranten, die bisher in Paris Zuflucht gefunden hatten“ — brachte mich in die dunkelste Zeit des 20. Jahrhunderts zurück, in dem die Exilanten mit allen ihren Schwierigkeiten — noch die dem Tod Entkommenen waren. Dem Artikel zufolge kamen mehr als 150.000 deutsche Emigranten zwischen 1933-40 auf der Flucht vor den Nationalsozialisten nach Frankreich, Sommer 1940 wurde Frankreich von der deutschen Armee erobert, der Süden wurde der kollaboristischen Regierung Marschall Petains, der Vichy-Regierung, unterstellt. Der Einmarsch der deutschen Truppen in Paris und die französische Kapitulation Juni 1940 verursachte einen großen Flüchtlingsstrom nach Süden, in den noch unbesetzten Teil Frankreichs. In Sanary sur Mer, 80 km von Marseille entfernt, fanden französische Schriftsteller und Maler auf der Flucht vor den nationalsozialistischen Verfolgungen einen Zufluchtsort. Das nahe Marseille bedeutete Entkommen per Schiff nach Übersee, Sanary sur Mer bedeutete Warten auf ein Visum, eine EinreiseErlaubnis nach Amerika. Die Namen der exilierten Schriftsteller in Sanary sind beeindruckend: Klaus, Erika und Golo Mann, Franz Werfel, Alma Mahler, René Schickele, Lion Feuchtwanger, Walter Hasenclever, Bertolt Brecht, Ernst Bloch, Alfred Kantorowicz, Ludwig Marcuse, Rudolph Leonhardt. Im Café de la Marine trafen sich die deutschsprachigen Schriftsteller, diskutierten — eine Ersatzheimat. Die komfortable Villa von Lion Feuchtwanger wird zu einem Mittelpunkt des literarischen Lebens, mit streng geregelten Besuchsstunden. Die Lebensbedingungen in Sanary veränderten sich nach der französischen Kapitulation im Juni 1940. Das französische Innenministerium verfügte, daß alle Emigranten sich in Sammellagern melden müßten, um zu überprüfen, ob sie eine Gefahr für die nationale Sicherheit wären. Lion Feuchtwanger beschreibt das Leben im Lager Les Milles in seinem Buch „Der Teufel in Frankreich“. Die deutschen Schriftsteller wurden nach einigen Tagen oder Wochen entlassen, das Lager wird im September 1942 aufgelöst. Mehr als 1.800 Menschen werden nach Auschwitz deportiert. Franz Hessel stirbt in Sanary sur Mer. Feuchtwanger gelang es, 1940 mit anderen nach Amerika zu entkommen. Es gibt einen Film „Les Camps du Silence“ (Lager des Schweigens) über das Lager Les Milles, in welchem der Autor des Films, Bernard Mangiante, 55 Zeitzeugen befragt. Er wurde in Lyon im Jahre 1989, in Berlin 1994 aufgeführt. Heute erinnern an diese Zeit Wandmalereien der internierten Maler im Lager Les Milles, einer vormaligen Ziegelei. Als „Kulturelle Denkmäler Frankreichs“ kann man diese bei freiem Eintritt besichtigen. Auch eine Gedenktafel aus Marmor, auf der 36 Namen eingraviert sind, wurde auf dem Bouleplatz in Sanary sur Mer errichtet. Auf ihr steht: Den deutschen und österreichischen Schriftstellern mit ihren Angehörigen und Freunden, die auf der Flucht vor der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Sanary sur Mer zusammentrafen. Bei der Enthüllung der Gedenktafel dankten diplomatische Vertreter der Bundesrepublik Deutschland und Österreichs den Einwohnern von Sanary für die warmherzige Aufnahme der Flüchtlinge. (Wie sich die Zeiten ändern.) Buchzugänge Evelyn Adunka: Die Vierte Gemeinde. Die Wiener Juden in der Zeit von 1945 bis hwutw. Berlin, Wien: Philo Verlag 2000. 568 S. ÖS 576,-/DM 78,-/SFr 73,- (Geschichte der Juden in Wien. Hg. vom Institut für die Geschichte der Juden in Österreich. Bd. 6) Gelegentlich der Anzeige dieses für die Redaktion der Zwischenwelt besonders erfreulichen Bucheinganges sei auf die anderen in derselben Reihe erschienenen Werke kurz verwiesen: Klaus Lohrmann, „Die Wiener Juden im Mittelalter“; Sabine Hödl, „Die Wiener Juden in der Frühen Neuzeit“; Klaus Lohrmann, „Die Wiener Juden in der Zeit von Samuel Oppenheimer bis zur Toleranzzeit“; Tina Walzer/Gerhard Milchram/Albert Lichtblau u.a., „Die Wiener Juden in der Zeit von der Toleranzpolitik Joseph II. bis zum Israelitengesetz 1890“; Evelyn Adunka/Eleonore Lappin/Albert Lichtblau u.a., „Die Wiener Juden in der Zeit von der Jahrhundertwende bis zur Vernichtung der Wiener jüdischen Gemeinde“. Bei einer Subskription aller sechs Bände wird ein Preisnachlaß von 20 % gewährt. David Bergelson: Leben ohne Frühling. Roman. Aus dem Jiddischen von ALexander Eliasberg. Mit einem Nachwort von Arno Lustiger. Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag 2000. 293 S. ÖS 124,-/DM 17,-/ SFr 16,70 63