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Gestatten Sie, daß ich Vladimir Vertlib mit einem anderen österreichischen Autor russischer Herkunft vergleiche — mit dem 1912 in Charkow geborenen, 1939 im Konzentrationslager Buchenwald verstorbenen Jura Soyfer. Beide, Vertlib und Soyfer, entstammen russisch-jüdischen Familien. Soyfers Vater war Fabrikant, flüchtete vor der Oktoberrevolution und vor dem Weißen Terror in der Ukraine über Istanbul nach Wien. Vertlibs Eltern gehörten der wissenschaftlich-technischen Intelligenz an und verließen 1971 die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken wegen des antisemitischen Drucks, den sie allenthalben zu spüren bekamen, und wegen des zionistischen Engagements, das ihnen daraus erwachsen war. Während jedoch Soyfer nach kurzer Wanderschaft schon ab 1920 in Wien seßhaft wurde, sah sich Vertlib durch viele Länder getrieben, Israel, dann Italien, Österreich, Israel, wieder Österreich, die Niederlande, die USA, um schließlich mit den Eltern in Wien gleichsam kleben zu bleiben, mangels anderer Alternativen. Für beide, Soyfer wie Vertlib, stellte sich das Land zunächst als von unterirdischen Flüchtlingsströmen durchzogener Wartesaal dar, in denen die Vertriebenen und Flüchtlinge unterschiedlichster Provenienz der Visa für Länder, in denen man vielleicht ein neues Leben beginnen konnte, harrten. Der Aufenthalt in Österreich war provisorisch, man befand sich gewissermaßen auf keinem gültigen Teil der Erdoberfläche, sondern eben in einem meist zugigen, muffigen Wartesaal. Anders jedoch als Vertlib fand sich Soyfer bald vom heißen Atem einer widerspruchsvoll bewegten politischen Kultur umschlungen, gehörte der Vereinigung sozialistischer Mittelschüler an, wurde dem Autorenkollektiv des „Politischen Kabaretts“ der sozialdemokratischen Veranstaltungsgruppe zugezogen, wandte sich nach dem Februar 1934 der im Untergrund tätigen kommunistischen Partei und der im Souterrain der Häuser und der Kultur beheimateten Kabarettbewegung zu, gestaltete in seinem „Mittelstück“ Astoria den von Hannah Arendt pointierten Gegensatz zwischem dem Juden als Paria und als Parvenü, mit dem marodierenden Außenseiter, Vagabunden, Nichtzugehörigen auf der einen Seite, der von einer Welt träumt, in der keine Ausweise verlangt werden. Auf der anderen Seite steht der „Parvenü“, nicht mit einem Emporkömmling gleichzusetzen, sondern eher einer, der an die Instanzen, Institutionen, Ehrenämter glaubt, der an Minister und Präsidenten appelliert, auf daß sie ihm Schutz und Hilfe versprechen, der im festen Glauben an die repräsentative Kultur die tradierten Kunstfertigkeiten und akademischen Gebräuche pflegt. Was für Soyfer am Ende seines allzu kurzen Schriftstellerlebens zum Problem wurde und von ihm nur in verdeckter Form artikuliert werden konnte, die Frage des Sprechens aus der Position des Nichtzugehörigen heraus, dem seine den anderen unbekannte und fremde Vorgeschichte ihm angesichts der kompakt Daseienden die Lippen verschließt, stand für Vladimir Vertlib am Anfang und im Zentrum seiner schriftstellerischen Arbeit. Er konnte nur sprechen, wenn er die Voraussetzung seines Sprechens zur Sprache brachte, seine bewegte, vielfarbige und einsame Jugend inmitten von Vertreibung und 4 Wiederkehr, diese unerhörte und nie gern gehörte, mit einer Geste des Verweises auf mögliche Fürsorge leichthin abservierte Geschichte von den ungezählten Füßen und Füßchen, die gezwungen sind, neue Wege durch den Menschenbrei, der diese Erde bedeckt, zu trampeln, um „drei Meilen hinter Weihnachten“ ins Schlaraffenland zu kommen - auch dies eine alte Flüchtlingsgeschichte, in der Zeit und Raum sich ineinander verkehren, wie in den Erwartungen und Erfahrungen der russisch-jüdischen Auswanderer, die Vertlib in seinem Roman „Zwischenstationen“ schildert. Und dennoch: Obwohl Vertlib anders als Soyfer diese lähmende Spannung noch vor dem ersten Wort stets von neuem zu überwinden und zu durchqueren hat, hat sich auch sein Schreiben wie das Jura Soyfers nur in der Vermittlung mit einer Tradition und — in Österreich allerdings marginalisierten — Kultur des Widerstandes entwickeln und entfalten können. Bedeutsam scheint mir in diesem Zusammenhang doch die Zusammenarbeit mit dem Verein zur Förderung und Erforschung der antifaschistischen Literatur, die Übersetzung und Bearbeitung von Ray Eichenbaums autobiographischem Epos „Romeks Odyssee“ und die Bearbeitung von Bil Spiras „Legende vom Zeichner“, beides Bücher, die die Irrfahrten der jüdischen Autoren durch Exil und Konzentrationslager schildern, zugleich aber — scheinbar vergeblich — beizutragen suchen zu einem Zustand der Zivilisation, in dem nie wieder geschehen muß, was einmal geschehen ist. Die Vermittlung des eigenen Schreibens mit den heiklen und gefährdeten Traditionen des Widerstands, das Öffnen der eigenen Biographie über den durch das Geburtsdatum gesetzten Anfangs- und Schlußpunkt hinaus, bringt mit sich, daß der Autor lernt, in einem geistig-kulturellen Raum neben anderen Stimmen, die in seinem Ohr hallen und nachklingen, zu sprechen, daß er sich der künstlerischen Einsamkeit, der existentiellen Anmaßung, das letzte oder erste Licht im Dunkel zu sein, entschlägt. Die Erzählungen Vertlibs beginnen nicht erst mit sich selbst, sondern erscheinen als Fort- und Weiterführung anderer Erzählungen, sowohl der erzählenden Literatur, als auch, im gemeinen Verstande, all dessen, was sich Menschen im Alltag in Form kleiner Erzählungen nicht müde werden mitzuteilen. In dieser Hinsicht ist Vertlib auch einer, der uns vom Erzählen erzählt, von dem, was dem Vater, wenn er im weißrussischen Dorf nach dem Schicksal der ermordeten Verwandten forscht, ‚erzählt‘ wird, oder von dem, was die Kinder zu hören bekommen, wenn sie den Erzählungen der Erwachsenen im Flüchtlingsquartier lauschen. Das Ich dieser Erzählungen ist eigenartig zurückgenommen, nicht ein Schelm, dem allerlei widerfährt, wiewohl auch er oft widerspenstig ist, zu eigenwilligen Einfällen und schlichtem Fehlverhalten neigt (so zumindest in der Perspektive der Mitflüchtlinge, die sich wechselseitig kompetente Realitätsbewältigung beteuern und abfordern). Die Verzögerungen, Aufenthalte, Verspätungen, die dieses Ich gegen das rasende Dahinschwinden der durch Aufenthaltsgenehmigungen und schrumpfende Geldmittel stets befristeten Zeit mobilisiert, schaffen in der Ortlosigkeit der Nicht-Zugehörigkeit, des Exils, den Ort des Erzählens,