OCR
trieben oder in Konzentrationslager verschickt hat, aber niemals müde wird, auf die große Tradition österreichischer Geistigkeit und Kultur hinzuweisen, die ohne eben diese jüdischen Intellektuellen und Künstler undenkbar gewesen wäre. In dieser Zeit, die auf einmal eine „mir san mir“ und „jetzt erst recht“ Zeit geworden ist, gilt es innezuhalten und sich zu besinnen, den Blick abzuwenden von den Wendeberauschten, die mit Tunnelblick in eine scheinbar so lichte Zukunft schauen. Die Vergabe des Förderungspreises für Literatur an Vladimir Vertlib bietet die Chance zum Nachdenken über die Frage, ob es auch für uns Österreicher den Nutzen und Nachteil der Historie gibt. Ob uns ein Blick in die Vergangenheit, besonders auf dieses vergangene turbulente Jahrhundert, das ebenso von außerordentlicher Geistigkeit wie von außerordentlicher Barbarei geprägt war, vielleicht doch ein wenig stutzig macht oder ob wir dazu verdammt sind, wie in einem Alptraum immer wieder die gleichen Fehler zu machen, die Sünden und Versäumnisse unserer Väter und Großväter zu wiederholen und, den Abgrund vor Augen, doch festen Schrittes darauf zuzugehen. Man kann es drehen und wenden wie man will, man wird um die Tatsache nicht herumkommen, daß sich durch unsere jüngere und jüngste Vergangenheit als ein Leitmotiv eine gelegentlich zum Fremdenhaß mutierende Xenophobie zieht, eine Xenophobie, die freilich nicht offen als solche einbekannt wird, sondern als notwendige Besinnung auf das eigentlich Österreichische, das Bodenständige, die Bewahrung des eigenen Volkstums, was immer man darunter versteht, auftritt. Die wahren Motive einer solchen Geisteshaltung sind mannigfach: Konkurrenzdenken, die Abwehrhaltung gegen eine fremde Kultur und Sprache, Aversionen gegen fremdartige Lebensgewohnheiten, all dies wird zu einer Überlebensfrage der eigenen Kultur hochstilisiert. Dabei stellt man sich in ideologischer Verblendung gar nicht die Frage, ob jenes hermetisch Älplerische, das Einmauern in der eigenen Lokalität und der zu Boden gerichtete Blick denn nicht ein außerordentlicher Hemmschuh für die Entwicklung jeder Kultur und Gesellschaft sind. Zu den schlimmsten Auswüchsen der Xenophobie, wenn auch nicht zur Xenophobie im eigentlichen Sinne, weil sich der Haß nicht gegen Fremde, sondern gegen die eigenen Mitbürger richtet, zählt der Antisemitismus. Ruth Wodak schreibt: „Nach 1945 durfte man nicht mehr öffentlich antisemitisch sein, im Gegenteil, man mußte stets beteuern, es nie gewesen zu sein. Obwohl es also offiziell weder Antisemiten, Antisemitismus oder Juden mehr in Österreich gibt, begegnet man immer wieder politischen und privaten Antisemitismen und Antisemiten, die traditionellen Vorurteilsinhalte verschwanden nicht etwa, sondern sind — ganz im Gegenteil — sehr beständig.“ Als man sich nach Kriegsende um eine neue Identität dieses Landes bemühte, wurde für viele Jahre und Jahrzehnte die Opferrolle Österreichs, der Status eines annektierten Landes festgeschrieben, eine Lebenslüge, mit der man sich sehr gut von den Verbrechen des Dritten Reichs, vor allem von den Verbrechen gegen das jüdische Volk abkoppeln konnte. Wenn Österreich keinen Anteil an den Verbrechen des Dritten Reiches hatte, dann konnte der gelegentliche Antisemitismus, weil geschichtlich unbelastet, nur halb so schlimm sein, vielleicht dem scheinbar gemütlichen Wiener Antisemitismus der Lueger-Zeit vergleichbar. Als diese Lebenslüge aber in der sogenannten Waldheim-Affäre Risse und Sprünge bekam, feierte ein teilweise offen einbekannter Antisemitismus wieder fröhliche Urständ. Weil Österreich vielleicht zum ersten Mal seit Kriegsende erkannt hatte, wie verwundbar es in seiner Identität war, griff man in das Reservoire judenfeindlicher Vorurteile. Dabei ist es eine der bemerkenswertesten Paradoxien dieses Landes, eines Landes, in dem nach Meinungsumfragen zehn Prozent der Bevölkerung überzeugte Antisemiten, ein Drittel gemäßigte und nur ein Drittel frei von antisemitischen Vorurteilen ist, daß das offensichtlich spezifisch Österreichische an unserer Kultur, unserer Literatur, der Geistigkeit dieses Landes starke jüdische Wurzeln hat, ja ohne diese Wurzeln überhaupt nicht existieren würde. So ist der Anteil des Judentums am literarischen Leben Österreichs überwältigend groß. „Neun Zehntel von dem, was die Welt als Wiener Kultur des 19. Jahrhunderts feierte, war eine vom Wiener Judentum geförderte, genährte, oder sogar schon selbst geschaffene Kultur“, schrieb Stefan Zweig in seiner Autobiographie. Und Hilde Spiel meinte, sich auf eine Dichtergruppe des ausgehenden 19. Jahrhunderts beziehend, was aber teilweise auch für das 20. Jahrhundert gelten kann, daß es einfacher sei, die Nichtjuden unter ihren Mitgliedern zu nennen, weil sie doch stark in der Minderzahl seien. Daß es dabei zu einer glücklichen, einzigartigen und unwiederholbaren Symbiose kam, mag ein Glücksfall der Geschichte sein, das besonders herausragende Faktum scheint mir aber zu sein, daß sich jüdische Genialität auf wunderbare Weise in das Österreichische und Wienerische eingefühlt hat, ohne die spezifische jüdische Eigenart aufzugeben oder gar fallen zu lassen. Wenn es unserem Land — um es euphemistisch zu formulieren — international nicht besonders gut geht, wenn es darum geht, eigentlich verzweifelt darum geht, wieder aus dieser mondialen Isolation herauszukommen, so wird es sicher nicht genügen, in aller Welt zu erzählen: Wir sind nicht so, wir sind anders, als uns der Rest der Welt im Augenblick sieht. Das Werben um Glaubwürdigkeit wird wahrscheinlich auch nicht durch Inserate und Imagekampagnen zum Erfolg führen. Wir müssen für uns selbst wieder glaubwürdig werden, Verdrängungen bewußt machen, Schuld eingestehen, Verfehlungen aufarbeiten. Andererseits müssen wir aber auch präsentieren, was unsere Vergangenheit, unsere Geschichte über große Strecken hinweg war: ein durch fremde Einflüsse und zahlreiche Symbiosen, besonders durch das Vorhandensein des jüdischen Elements enorm wichtiger Beitrag zur europäischen Kultur- und Geistesgeschichte. Auch auf diesen Teil unserer Geschichte und Tradition bei allem Einbekennen der Schuld an großen und kleineren Katastrophenfällen der Geschichte gilt es hinzuweisen, und wenn alles gewogen wird, werden wir vielleicht am Ende doch nicht als zu leicht befunden. Die Verleihung eines Förderungspreises für Literatur, einer staatlichen Auszeichnung für einen bedeutenden Schriftsteller, ist eine kleine Welt, in der eigentlich nicht einmal die große ihre Probe hält, dennoch ist es ein ermunterndes Zeichen, ein Signal, daß dieser Preis gerade an Vladimir Vertlib geht, einen Autor, über dessen Roman „Zwischenstationen“ es in einer Rezension heißt: „Russisch, Hebräisch, Deutsch, Englisch, italienische, holländische Brocken ... in welcher Sprache hat Vertlib seinen Roman geschrieben?“ Und in einem Zitat aus diesem Roman: „Rußland - Israel — Österreich — Italien — Österreich - Holland — Israel — Italien - Österreich und nun die USA, ich bin des Reisens müde.“ Schon diese Aufzählung von Ländern und Sprachen öffnet den Horizont, holt die Welt herein, entsühnt