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gen für bewiesen hält. Er geht wohl von einem marxistischen Ansatz aus, der aber im Detail oft verloren geht, was gelegentlich das Verständnis erschwert. Vor allem die Rolle des Staats, die Scheit für wichtig genug hält, um sie im Buchtitel festzuhalten, istin vielen Fällen unklar. Dass zum Beispiel Shakespeares Portia in der Gerichtsszene den Staat verkörpert, ist richtig, doch der Hinweis auf die Signifikanz dieser Rolle kommt zu spät, als dass man sie in die Interpretation eingliedern könnte. Oft folgt man einem Argument, das in der Schlußfolgerung auf einmal verschwimmt. Das fällt besonders bei politischen Erwägungen auf. So steht am Ende, als Zusammenfassung, die befremdliche Behauptung, der Vernichtungskrieg sei die Grundlage des heutigen Wohlstands der Deutschen und Österreicher. „Denn die allseitige Vernichtung bereinigte die große Krise, beseitigte den durchs Kapital nicht verwertbaren Überschuß an Arbeitskräften und Produktionskapazitäten; und ohne das totale Feindbild der ‚Weltverschwörung des Judentums‘... wäre dieser Krieg nicht zum ‚totalen Krieg‘ geworden“. Das klingt ganz, als hätte die Vernichtung der europäischen Juden einen Sinn gehabt, was aber sicherlich vom Autor nicht so gemeint ist. Eine gründlichere Darstellung seiner Voraussetzungen hätte solchen Fehlschlüssen vorbeugen können. Und doch entwertet diese Einschränkung nicht die scharfen Analysen sowohl der dargestellten Werke wie deren Hintergründe. Hier ist ein wichtiger Beitrag zum Aufarbeitung einer Vergangenheit geliefert worden, die leider gar nicht die jüngste ist, sondern eine 2000jährige Geschichte hat. Das Buch ist mit reichlichen Anmerkungen versehen, hat aber bedauerlicherweise kein Register. Gerhard Scheit: Verborgener Staat, lebendiges Geld. Zur Dramaturgie des Antisemitismus. Freiburg: ca ira Verlag 1999. 587 S. ÖS 423,-/DM 58,Kleiner Versuch Todesorgel Man könnte auch sagen Schluck auf Schluck ist nicht Schluck auf Schluck Schluck ist für sich, Schluck ist für sich Man könnte auch sagen Antwort auf Frage ist nicht Antwort auf Frage Antwort ist für sich, Frage ist für sich Man könnte auch sagen Leben zum Tod ist nicht Leben zum Tod Leben ist für sich, Tod ist für sich Man könnte auch sagen Man könnte auch sagen ist nicht man könnte auch sagen Man könnte ist für sich, auch sagen ist für sich Schluck auf Schluck Antwort auf Frage Leben zum Tod Man könnte auch sagen Die Verzweifelten (Salut auf Milo Dor) I. Was Mitteleuropa, schnaubt Milo Dor, und er blickt herum Im Kreis der Diskutanten, alle reden Englisch, das soll ein Mitteleuropa sein? Ihr Mitteleuropäer ohne Juden, ihr seht aus Wie dieses Mitteleuropa, von dem ihr redet. Jetzt geh ich ins Café Hummel, unterm Tisch dort Ist Mitteleuropa, im Schatten des falschen Marmors. Daweil still die Slowakei rudert nach Konstantinopel Und Dein Beograd schamrot Die Verzweifelten beherbergt, damit sie Nach durchheulter Nacht aufstehn Um andere in anderen Städten niederzuwerfen Dubrovnik träumt sich und wund nach Ragusa zurück Das ferne Sarajevo ein Tränenschwamm Doch im Karstgebirg drohen die Naturdinge Unterm gewohnten Lauf Der Gestirne Mitteleuropa, aus den Fußbodenritzen Suppt es, bedreckt die Gedanken II. Und wackelten in deinem Hause zu Rowinj Die Wände, Stürme andrer Art Verbeißen sich im Karst, sie werfen hin Die Freunde, aufsteht fremdes Volk Die Maske hinter Masken doch das Blut Rinnt aus zerschossner Nase in den Lippenbart Dazu Musik beginnt mit ihrem Katzenstart Du sitzt so lange schon in Wien und das ist gut. Bist siebzig mittendrin in dem geglückten Werk hör ich Dich traurig sprechen Und zornig über die Verbrechen Als seist Du nur umgeben von Verrückten Die ihren eignen Tod mit Todestoden rächen. Doch Du Bedrückter bist geblieben Bruder den Bedrückten Mit freundlicher Genehmigung des Verlages entnommen dem eben in der Edition Suhrkamp (Nr. 2155) erschienenen Gedichtband „Immernie. Gedichte vom Moos der Neunzigerhöhlen“. — Robert Schindel hat für seine Lyrik heuer den Eduard Mörike-Preis erhalten. (Zu R. Schindel vgl. MdZ Nr. 2/1988, 4-6.) Über den Schriftsteller Milo Dor, geboren 1923 in Budapest, aufgewachsen in Belgrad, dort 1942 wegen Widerstandstätigkeit verhaftet und zur Zwangsarbeit nach Wien deportiert und hier geblieben, hoffen wir, bei nächster Gelgenheit ein wenig berichten zu können.