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3. Wachstum: Kinderheimpädagogik Ernst Papanek beschreibt die Reaktion der neu im Kinderheim angekommenen Kinder auf seine Erklärung, daß sie bis zum Mittagessen draußen spielen könnten: „Einen Augenblick herrschte Stille. Dann hob ein ernst blickendes, rothaariges Mädchen von ungefähr neun Jahren schüchtern die Hand, und als ich sie ermutigte, zu sprechen, fragte sie mit zitternder Stimme: ‚Dürfen jüdische Kinder auch in den Park gehen?‘ Wir waren vernichtet. Wir mußten an uns halten, um nicht auf das Kind loszustürzen und es zu umarmen. Noch vernichtender war, daß alle anderen Augen auf uns gerichtet waren und ängstlich auf Antwort warteten. [...] Sie befolgten nur die Anweisungen und Vorschläge, die ihnen gemacht wurden. Und so wußten wir nun endlich, was unsere erste Aufgabe war: Wir mußten sie lehren, Kinder zu sein.“ (Papanek 1980, S. 59) Hier wird schon deutlich, daß die Erkenntnisse aus der Wiener Schulreform nicht direkt in den Kinderheimen angewandt wurden, sondern sich aufgrund der besonderen Verhältnisse veränderten. Im Vordergrund stand die Entwurzelung der Kinder und ihre z.T. direkten Erfahrungen mit dem Naziregime, mit Verfolgung, Ausgegrenztsein und Gewalt, und insbesondere die Trennung von den Eltern, die eine pädagogisch-therapeutische Arbeit erforderten, denn: „Diese Trennung bedeutet für die Kinder nicht nur eine gefühlsmäßige Verwirrung, sondern beinhaltet für sie auch eine völlige Desorganisation des normalen physischen und psychologischen Lebens. Ihre Gefühle für Sicherheit, Zugehörigkeit, Loyalität sind entwurzelt.“ (Papanek 1956, S. 56). Tragend wurden die reformpädagogischen Forderungen nach Kindgemäßheit der Umgebung und des Unterrichts, nach individueller Förderung und Selbsttätigkeit des Kindes und nach einem Gemeinschaftsleben, das Mitbestimmung ermöglicht und die Übernahme von Verantwortung erfordert. Ernst Papanek hielt diese Grundsätze für die Arbeit mit den asylsuchenden, psychisch verstörten Kindern für existentiell wichtig. Die Kinderheime boten aber auch für Kinder, die mit ihrer Familie oder einem Elternteil ins Exil gegangen waren, zumindestens vorübergehend, neben der materiellen Sicherung ihres Lebens eine Chance für positive Gemeinschaftserlebnisse und für eine religiöse bzw. politische Orientierung: „Wir wollten die Kinder glücklich machen, aber wir mußten vermeiden, daß die Heime zu ‚Inseln des Glücks‘ wurden. So wie wir es ablehnten, die Tatsache zu verbergen, daß ihre Eltern in Todesgefahr waren und auch ihre Lage sehr prekär war, machten wir ihnen ständig bewußt, daß das Kinderheim nur eine Episode in ihrem Leben war, ein vorübergehender Ruhepunkt, der ihnen die Chance geben sollte, sich auf das neue Leben, das ihnen bevorstand, vorzubereiten.‘ (Papanek 1980, S. 118) Ernst Papanek entwickelte deshalb den folgenden Erziehungsplan (ebd. S. 114 ff.): Da die Kinder nicht mit ihrem früheren sozialen, kulturellen und familiären Hintergrund in Konflikt gebracht werden sollten, lebten z.B. die orthodox jüdisch Erzogenen in einem gesonderten Heim, in dem die religiöse Erziehung fortgesetzt und die Speisevorschriften eingehalten wurden. Die Kinder sollten in einer Atmosphäre der Gemeinschaft die Chance erhalten, wieder Kind zu sein, Französisch zu lernen und sich auf ein neues Leben ohne Familientradition und -verbindungen vorzubereiten. Geplant war, nach einem Jahr der Betreuung und Unterrichtung in den Kinderheimen nach den Prinzipien der Arbeitsschule und nach der Projektmethode eine Integration in die ortsansässigen Öffentlichen Schulen anzu12 streben; dazu kam es jedoch wegen der Okkupation Frankreichs nicht mehr. Neben den reformpädagogischen Prinzipien ruhte die Kinderheimerziehung auf zwei weiteren Säulen, die ebenfalls auf der Wiener Schulreform basieren, nämlich das Demokratiemodell und die Individualpsychologie. In Anlehnung an die sozialdemokratischen, österreichischen Ferienlager, die sog. „Kinderrepubliken“, die von der Kinderfreundebewegung um Otto Felix Kanitz’ organisiert wurden und verschiedene Formen des Mitspracherechts der Kinder, des Lebens in der Gruppe und des Erlebens von Gemeinschaft, Solidarität und gemeinschaftliche Tätigkeiten pflegten, hatten die Kinderheime eine eigene Verfassung. Es gab ein aktives und passives Wahlrecht ab 8 Jahre, geheime Wahlen, eine Zimmervertretung, Gruppenkomitees, Hauskomitees, einen Rat aller Heime, einen Disziplinarrat und eine Berufungsinstanz, denn Ernst Papanek vertrat die Meinung: „Wenn wir Kinder für eine freie und demokratische Gesellschaft vorbereiten wollen, müssen wir mit einer freien und demokratischen Erziehung beginnen, und die Teilnahme der Kinder an der Verwaltung ihrer eigenen Gemeinschaft ist in dieser Hinsicht besonders wichtig.“ (Papanek 1956, S. 69). Die Beratungen der einzelnen Gruppen und die wöchentlichen Versammlungen aller Kinder und des ganzen Personals dienten vor allem zwei Zwecken: „Erstens: Gruppentherapie, die imstande ist, Spannungen in der Gemeinschaft zu lösen, Feindseligkeiten und Mißstimmungen zu erörtern und zu klären und allgemeine Klagen zu beantworten, Vergesellschaftung und Zusammenarbeit und Aufbau einer Gemeinschaftsatmosphäre zu fördern. Zweitens: Allmähliches Erlernen des demokratischen Verfahrens in der Gemeinschaft, freie Rede, Respekt vor den Ansichten anderer, mutige Opposition zu deren Ansichten, organisierte Wahl von Vertretern und Komitees, Verständnis für eine zweckmäßige Zusammenarbeit mit der Verwaltung und den Erziehern.“ (ebd., S. 69). Wie hier bereits anklingt, wurde die Individualpsychologie zum Bestandteil des Behandlungs- und Erziehungsprogramms: ,,vom Kinde ausgehend, auf das Kind konzentriert und [...] auf die Probleme der menschlichen Beziehungen eingestellt“ (ebd., S. 67). Während seiner Arbeit stellte Ernst Papanek fest, daß insbesondere die Kinder, die aus orthodox jüdischen und aus politisch engagierten, meist sozialistischen EIternhäusern heraus zu den Verfolgten des Nazi-Regimes wurden, weniger Schwierigkeiten hatten, die Exilsituation zu verarbeiten, ihre Identität zu bewahren bzw. ihr Selbstvertrauen wieder zu entwickeln, als Kinder aus assimilierten Elternhäusern, die ihre Stigmatisierung nicht verstehen konnten (Papanek 1980, S. 85 f.). Hanna Papanek, die Schwiegertochter Ernst Papaneks, die als Jugendliche selbst in einem der OSEKinderheime war und derzeit diese Phase ihrer Lebensgeschichte im Kontext einer Monographie zum Thema ,,In Search of Exile: The Participatory History of a Political Family, 1880-2000“ aufarbeitet, beschreibt ebenfalls diese unterschiedlichen Sozialisationsvoraussetzungen und bestätigt die Verarbeitung der Exilsituation in Form von Politisierung bzw. von Resignation (Hanna Papanek 1998).? Zusammenfassend ist festzustellen, daß in den drei Säulen der Kinderheimpädagogik Elemente der Wiener Schulreform und des Austromarxismus präsent sind, daß jedoch angesichts der veränderten politischen Lage und der Exilsituation pädagogisch-therapeutische Gesichtspunkte im Vordergrund standen.