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Dieses nachwirkende multikulturelle Geistesklima im altösterreichischen Czernowitz war auch der Boden, auf dem die später so bestaunte „Bukowinerdeutsche Literatur“ im 19. Jahrhundert, insbesondere ab dessen Mitte, heranreifte und auch nichtdeutsche Talente wie Mihael Eminescu oder Olga Kobyljanska hervorbrachte. Diese und andere Absolventen deutscher Gymnasien fingen das Schreiben auf Deutsch an und wurden erst später zu den rumänischen bzw. ukrainischen Nationaldichtern, als die sie heute gefeiert werden. Einen unerwarteten Schub in die Moderne erhielt die bislang eher traditionelle, in „Buchenblätter‘ genannten Anthologien veröffentlichte Poesie durch die Bekanntschaft mit den neuesten literarischen Strömungen, als 1914 viele Czernowitzer vor den einrückenden Russen nach Westen — Prag und Wien - flohen. Das könnte die fast explosionsartige Blüte der modernen Czernowitzer Literatur nach 1920 erklären. Auf dem politischen und sozialen Umbruchsboden der aus der österreichisch behäbigen Ära in die unsichere rumänische Zukunft entlassenen Bukowina gedieh diese hochmoderne Lyrik offenbar besonders gut, wie etwa die expressionistische Zeitschrift „Der Nerv“ bezeugt. Diese Spätfrucht der jahrhundertelangen österreichischen Kulturarbeit in der Bukowina überlebte selbst die Teilung des Landes in eine ukrainische Nord- und eine rumänische Südhälfte 1940 und überdauerte die Liquidierung und die Zerstreuung ihrer deutschsprachigen Bewohner über die ganze Welt in dem nächsten Jahrzehnt. Der Abgesang des Phänomens Czernowitz begann mit der Besetzung der Stadt im russisch-rumänischen Krieg 1940 und setzte mit der Umsiedlung der rund 100.000 Deutschen „heim ins Reich“ unerwartet ein; dies fand fast zeitgleich mit der ersten Deportation der „politisch unzuverlässigen“ jüdischen Oberschicht durch die russischen Besatzer statt. Beide Maßnahmen waren Auftakt zu den später noch ungleich umfangreicheren Bevölkerungsverschiebungen in diesem Teil Europas und erfolgten im gegenseitigen Einvernehmen der beiden Diktatoren Stalin und Hitler, die im Molotow-Ribbentrop-Pakt die Bukowina der sowjetischen Einflusssphäre überlassen hatten. Nach Beginn des deutsch-sowjetischen Krieges im Juni 1941 und der raschen Rückeroberung der Bukowina durch die Rumänen an der Seite der Deutschen setzte ein Rachefeldzug an den als Kommunisten verteufelten Juden ein. Unter Duldung und sogar mit Hilfe des SD erfolgte eine Deportation des Großteils der noch verbliebenen jüdischen Czernowitzer durch die Regierung Antonescu nach Transnistrien, wo auch ohne KZs eine physische Vernichtung der meisten Umgesiedelten durch Seuchen und Hunger sowie harte Arbeit erreicht wurde. Die Überlebenden dieser Abart des Holocaust kehrten 1944 nach Czernowitz heim, wanderten dann aber — nachdem Tschernowtse endgültig sowjetisch geworden war — nach Bukarest aus; sehr bald aber weiter nach Israel, in die USA, aber auch nach (West) Deutschland — wo auch der Großteil der zunächst in den Ostgebieten angesiedelten Umsiedler gelandet waren. Dieses tragische Ende des wohl gelungensten Beispiels deutsch-jüdischer Symbiose darf nicht den Blick verstellen auf die davor liegenden Jahrhunderte mit lichten Seiten und positiven Phasen, insbesondere den großartigen literarischen Ergebnissen. Deshalb greift auch die in jüngster Zeit insbesondere bei Journalisten beliebte Reduzierung von Czernowitz auf ein ost22 jüdisches „Schtetl‘“ oder „Jerusalem des Ostens“ entschieden zu kurz; selbst wenn hervorzuheben ist, dass in Czernowitz große jiddische Dichter wie Itzig Manger oder heute noch Josef Burg zu nennen sind und dass hier 1908 der erste Jiddistik-Kongress stattfand oder im nahen Sadagura einer der bekanntesten chassidischen Rabbiner Hof hielt und Wunder wirkte. Czernowitz war sicher ein Zentrum jiddischer Kultur und Literatur — aber zugleich auch noch viel mehr: ein Ort, der in der deutschen Kultur- und insbesondere Literaturgeschichte einen hohen Rang zu beanspruchen hat. Deshalb kommt noch die Charakterisierung als „Klein-Wien‘“ am nächsten, die von den Buchenländern selbst - ironisch, aber nicht ohne Stolz —in der Selbstbezeichnung als „Buko-Wiener“ angenommen wurde: Wie in der kaiserlichen Hauptstadt war die Bevölkerung höchst verschiedener ethnischer Herkunft und auch weithin polyglott. Aber diese Pluralität — heute müsste man Multikulturalität sagen — wurde durch das Deutsche als Koine zusammengehalten und durch die kluge Administration, repräsentiert durch das Militär, praktikabel gemacht und in Funktion gehalten. Wien war bis zuletzt das unerreichbare, aber nie aufgegebene Ziel und Vorbild - allein schon im Stadtbild mit seinem bescheideneren Ringstraßenstil, weithin im kakanischen „Kaisergelb,,, mit einem großzügigen Stadtpark, der wie in Wien „Volksgarten“ genannt wurde, oder einem Strandbad, das am Pruth wie an der Donau „Gänsehäufel“ hieß. Dieses kaiserlich-Gsterreichische Czernowitz ist noch im heutigen (Innen)Stadtbild und seinen im deutschen Kontext noch immer zu hörenden Straßennamen (Ringplatz, Herrengasse) erkennbar: Dem Rathaus am „Ring,,, der Erzbischöflichen Residenz (heute Universität), dem Theater, dem „Deutschen‘ oder „Jüdischen Haus“ konnte die so oft durchs Land rasende Kriegsfurie erstaunlich wenig anhaben. Trotz aller nostalgischen Bemühungen um die wiederentdeckten alt(österreichisch)en Qualitäten kann das heutige Czernowitz nur ein unvollkommenes Bild jener lebendigen Stadt vermitteln, die es einst und bis zum Zweiten Weltkrieg noch war. Wer es wirklich entdecken und wissen will, wie es war, der kann das über die Literatur — nicht nur die der großen Namen - versuchen: Neben dem, die hermetischen Czernowitzer Verhältnisse sehr entfernt reflektierenden Paul Celan sind hier die Gedichte der darin viel offeneren Rose Ausländer oder die Erzählungen und Romane von Gregor von Rezzori, Georg Drozdowski, Edgar Hilsenrath oder K. Klein Haparasch anzuempfehlen. Aber er müsste auch die Erinnerungen von weniger berühmten Czernowitzern konsultieren — ob sie nun in nostalgischen Bildbänden aus München oder Memoiren von Czernowitzern aus Israel wie Israel Chalfen oder Josef N. Rudel vorliegen: Sie beschreiben nicht nur genauer, wie und warum das Leben so spezifisch bukowinisch war, noch wichtiger ist: sie legen Zeugnis darüber ab, dass es lange vor der Entdeckung der Multikulturalität schon ein gutes Beispiel davon gab, das sich jenseits allen Mythos‘ dem heutigen Europa zur Nachahmung empfiehlt. Kurt Rein, geb. 1932 in der Bukowina, ist Inhaber des Lehrstuhls für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur II am Institut für deutsche Philologie der Universität München.