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dung des ,,halb-asiatischen“ Schicksals, war damit im Entstehen. Es fällt bei dem Vergleich des im Tagebuch enthaltenen Artikelentwurfes und dessen später in der Grazer „Tagespost“ Anfang 1869 veröffentlichten Fassung auf, wie, parallel zu der sprachlichen Schleifung des Diskurses, die (im Grunde kaum originelle) Idee sich durch eine sorgfältiger ausformulierte Argumentation profilierte. Die Diktion ist jetzt klarer, vielleicht auch, weil Franzos nicht mehr auf die Empfindlichkeiten der rumänischen Leser der „Czernowitzer Zeitung“ Rücksicht nehmen muß: das Wort „Germanisierung“ wird offen ausgesprochen, und ebenso offen wird festgestellt, daß „in diesem entlegenen Ländchen [...] das deutsche Element in Amt und Schule, in Leben und Literatur‘ dominiert, und behauptet, daß „hier es [...] kein historisches Landesrecht [gab], kurz — hier fehlte all das, was anderwärts die ‚historisch-politischen‘ Individualitäten geschaffen“ habe. Eine implizite Polemik gegen den noch passiven Widerstand eines Teils des rumänischen Adels und des keimenden rumänischen Bildungsbürgertums in der Bukowina gegenüber der Germanisierung des Kronlandes enthielt allerdings auch das Tagebuch-Fragment; die Initiative, die deutschsprachigen „Bukowiner Poeten“ zu würdigen, zeichnet sich gerade während einer Debatte im Czernowitzer Landtag zur Frage der Gleichberechtigung der Landessprachen ab, in der ein rumänischer Abgeordneter bemerkte, daß (laut „Czernowitzer Zeitung‘) „das deutsche Idiom und die deutsche Kultur [...] in der Bukowina auch faktisch ein Übergewicht in Schule und Amt, im öffentlichen Leben, in dem landtäglichen Verhandlungssaale selbst haben“. Genau ein Jahr später, als derselbe Landtag den Antrag des rumänischen Abgeordneten Andriewicz auf Einführung von rumänisch verfaßten Protokollen der Landtagssitzungen neben den üblichen deutschen heftig diskutierte, wird der junge Franzos seinen aufsehenerregenden Trinkspruch auf der Alexander von Humboldt-Jubiläumsfeier des „Vereins zur Förderung wissenschaftlicher Bildung in der Bukowina“ in Czernowitz halten, wo er, jenseits der deutschnational gefärbten, aber trotzdem sehr diskreten Kritik an der österreichischen Politik, wiederum — und diesmal vor dem vornehmsten Publikum der Landeshauptstadt — die zivilisatorische Rolle des Deutschen in der Bukowina und ihre hiesige Ausnahmestellung im Vergleich zu anderen Regionen der Monarchie hervorheben wird: „Hier kämpft das Deutschtum mit den ihm eigenen Waffen — dem Lichte und der Liebe. Hier war es dem Deutschtum vergönnt, als Kulturelement zu wirken, in solcher Reinheit, in solcher Erhabenheit, in solcher Selbstlosigkeit wie nirgend anderswo“, während „das Kulturleben“ der „beiden Hauptnationalitäten dieses schönen Landes“ sich noch in einem Zustand des „Empfangens“ und noch nicht des „Gebens“ befände. In die thematische „Marktlücke“, die er Anfang der 1870er Jahre mit Hilfe der „Westermann Monatshefte‘“ entdeckte und die er fleißig mit seinen „Kulturskizzen“ aufzufüllen trachtete, paßte die These, die den Wiener offiziellen Kreisen gar nicht mißfiel, und das darin investierte rhetorische Engagement eines gezähmten, wenn nicht instrumentalisierten National-Liberalismus ganz gut, so daß die Verlockung, in dem nord-moldauischen Kronland eine ideale Alternative zur „halb-asiatischen“ Öde lokalisieren zu können und dieser das Modell einer gelungenen „Cultur-Arbeit“ der Deutschen in Osteuropa entgegenzusetzen, zu groß war, um sich von eventuellen Korrekturen, Erwiderungen oder Feindseligkeiten der „nationalen“ Rumänen in Czernowitz, Bukarest oder Jassy gehindert zu 24 fühlen. Das Endziel der Reise Franzos’, der für die „Neue Freie Presse“ über die Festlichkeiten zur Jubiläumsfeier des Anschlusses der Bukowina an Österreich und zur Gründung der Franz-Josephs-Universität im Oktober 1875 berichten sollte, erscheint auf einmal im triumphalen Sonnenaufgang, nachdem der Zug die „kahle Haide, die ärmlichen Hütten“ der in der Nacht durchquerten „halb-asiatischen“ Landschaft, mit ihrem „Mangel jeglicher Industrie und Kultur“, verlassen hatte; Czernowitz ist laut Franzos die Stadt, die den Sieg des urbanen Mitteleuropa gegen den patriarchalisch-ländlichen Osten symbolisierte: „Prächtig liegt die freundliche Stadt auf ragender Höhe. Wer da einfährt, dem ist seltsam zu Muthe: er ist plötzlich wieder im Westen, wo Bildung, Gesittung und weißes Tischzeug zu finden. Und will er wissen, wer dies Wunder vollbracht, so lausche er der Sprache der Bewohner: sie ist die deutsche. Und er sehe zu, zu welchem Feste sie rüsten: zu einem Feste des deutschen Geistes. Der deutsche Geist, dieser gütigste und mächtigste Zauberer unter der Sonne, er - und er allein! - hat dies blühende Stücklein Europa hingestellt, mitten in die halbasiatische Culturwüste!“ (Aus: „Von Wien nach Czernowitz“). Der Mythos „Czernowitz“, der im Grunde nur eine andere Seite des Mythos „Halb-Asien“ darstellte, begann nun auflagenstark seinen eigenen Weg in das kollektive Gedächtnis. Der Verdacht, daß dieses „Czernowitz“ lediglich ein „Konstrukt‘“ war und die Begeisterung vor der „Oase [...] mitten in der östlichen Unkultur“ einen hohen Prozentsatz Simulationseifer enthielt — was Franzos selbst in der Einleitung zu „HalbAsien“ heimlich zugab: „wer so viel tadeln muß, hört, wenn er endlich einmal loben kann, auch im Lob nicht gerne rasch auf“ —, wird von der Lektüre des sieben Jahre vorher redigierten Tagebuchs nur verstärkt. Selbstverständlich mögen die Karl Emil Franzos, Abbildung aus: Geschichten aus Halbasien, Hamburg 1916.