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wiederholten Reisen in die „halb-asiatische“ Umgebung, die Franzos von Czernowitz aus jahrelang unternahm, ihm erlaubt haben, die Bukowiner Landeshauptstadt nicht nur mit Wien, sondern auch mit den Städten in der „halb-asiatischen“ Umgebung zu vergleichen, so daß die „alten Straßen, alt wenigstens, weil urbekannt und vertraut“, sich ihm in einem günstigeren Licht zeigen konnten: „wer langsam die umliegenden Landschaften durchzieht [...]; wer Stanislau oder Jassy, Mohilew oder Bistritz gesehen, wird freudig erstaunt diese Cultur-Oase betreten. Er sieht wieder einmal eine Stadt, nicht mehr einen wirren Knäuel von Häusern und Hütten; er sieht Straßen, nicht mehr im Zickzack laufende Zwischenräume, auf denen der Unrath der umliegenden Häuser abgelagert wird; er sieht schöne, wohnliche Häuser, ihn grüßt mancher neue, stylvolle Prachtbau; er sieht wieder gepflasterte Straßen und Plätze, und die Straßen werden beleuchtet und gekehrt“. (Aus: „Ein Culturfest“.) Jedoch ertrug der von der „dämonisch schönen“ Metropole an der Donau faszinierte Junge, der dazu noch von einer steilen Karriere in Wien träumte, mit quälender Mühe („ezernoviziensisch-langweilig-ekelhaft“) die provinzielle Enge der Stadt, in der er immerhin das Werk Georg Büchners entdeckte, und besonders „das Treiben der guten Jugend“, das sich „auf das ewige auf- und abperpendiculiren“ in der Russischen oder in der Herrengasse beschränkte; die zunächst „ergötzliche‘“ und dann leidvolle Erfahrung des „Ehrengerichtes“, an dem er teilnahm, veranlaßte ihn mehrmals, seinen Zorn an dem „in der guten Stadt Czernowitz“ regierenden Haufen „aufgeblasener, dummstolzer, arroganter Laffen zwischen achtzehn und zwanzig“ auszulassen — diese „dünken sich unendlich hoch und weise, halten ihr Lärmen und Saufen für schöne, erbauliche Dinge“ usw. Ebensowenig gewähren ihm die „Bucoviner Poeten“ intellektuellen Trost; mit kaum verdeckter Verachtung spricht er im Tagebuch von der „epidemisch-elementaren Gewalt“ der „massenhaften Verserzeugung“ und von dem „Dilettantismus, der in unseren heimischen poetischen Kreisen wuchert“. Trotz seiner schon im Tagebuch unmißverständlich geäußerten Überzeugung, daß sich in dieser Provinz „auch manches schöne Herz [...] verflacht. Und vergeht. Oder es erlaubt sich eine Weile, über die Schranken zu treten, die Blödsinn und Angewöhnung hier um jedes Individuum gezogen, und dann balanciert es entweder mühsam auf der zarten Grenze zwischen Wohlanständigkeit und Verfehmung, oder es fällt ganz der letzteren anheim“, wird er die Beziehungen zu der ,,Vaterstadt“ zumindest einige Jahre weiter pflegen, nicht nur, weil die bei der Mutter und den Schwestern verbrachten Semesterferien die für ihn einzig bezahlbare Erholungsmöglichkeit waren, sondern auch wegen des ihn zum wichtigen Dichter des Landes krönenden „Buchenblätter“-Projektes, das gerade mit den besagten „Poeten“ von Czernowitz zu verwirklichen war. Wenn man die journalistische und literarische Laufbahn Franzos’ nach 1871 genau beobachtet, ist es jedoch sicher, daß er seitdem alles daran setzte, kein „Bukowiner Poet“ mehr sein zu müssen: die „Buchenblätter“, die er jährlich herausgeben sollte, erschienen nur noch einmal, als Beilage des ,,Bukowiner Hauskalenders“ im Jahre 1871, betreut von dem Freund Johann Georg Obrist und ohne Franzos’ Mitarbeit. Später wird er das Schicksal eines dieser Poeten als Spiegelbild dessen evozieren, was sein eigenes Schicksal in Czernowitz gewesen sein könnte: ein sich im Staatsdienst befindender Bildungsbürger, „der zugleich die Landeszeitung redigierte, sehr viele und sehr mittelmäßige Verse machte ...“ (Aus: „Erinnerungen an Mommsen“). Die Abrechnung mit dem Mythos wird in demselben Text, der als Erinnerung an ein Gespräch mit Theodor Mommsen inszeniert wurde — dessen Äußerungen Franzos übrigens aus dem Gedächtnis zitiert —, erbarmungslos: Czernowitz bedeutete für den berühmten Autor der Römischen Geschichte mit seiner gewaltigen Zeit- und Raumperspektive nicht mehr als „einen entlegenen Winkel des Kaisertums Österreich“, und die Universität, bei deren Gründung der grosse Mann just Franzos’ „begeisterten Artikel“ gelesen habe, das Gegenteil dessen, von dem jener geschwärmt hatte: kein „Straßburg im Osten“, sondern eine leidige „k.k. akademische Strafkolonie“. In Czernowitz, das Franzos seit 1891 nicht mehr besuchte, und von dem er sich definitiv distanzierte, da „in demselben Ländchen, das noch 1876 ein Eldorado der unbedingten Toleranz gewesen, die Konfessionen [sich] in den Haaren [liegen]“, wobei die Universität „von der Regierung als Stiefkind betrachtet und auf das kärglichste ausgestattet, ein armseliges Dasein fristet“, reagierte man auf diese Brüskierung seitens des einst verehrten Sohnes der Stadt, der plötzlich hinter deren „offizieller“ Geschichte nur noch die „Farce“ sah, eher resigniert als entrüstet: der Feuilletonist des „Czernowitzer Tagblattes“ gab (im Dezember 1903) Franzos’ strengem Urteil, die Bukowina sei doch ein Stück „Halb-Asiens“, sogar Recht, indem er sich seinerseits bemühte, die angeblich von dem simulatorischen Narzißmus verdeckte (paranoische) Differenz im Verhältnis zu „Europa“ masochistisch-provokativ hervorzuheben: „Wir sind ein dunkles Land geblieben, ein Morast mitten im erleuchteten Europa, ein Land, das man nicht liebt und nicht haßt, ein Land ohne Zukunft, eine Art Schande“. Franzos selbst, als er 1895 die Möglichkeit, seine beiden Schwestern aus Czernowitz zu sich nach Berlin übersiedeln zu lassen, entschieden ausschloß, drückte sich in dem Sinne (in einem Brief an einen Freund) mit verblüffender Direktheit aus: „Sie sind ja aus einer anderen Welt, wie sollen sie sich in die unsere finden?“ Fragment aus einer Karl Emil Franzos gewidmeten Studie. — Andrej Corbea-Hoisie, geb. 1951 in Jassy/Rumänien. Professor für Germanistik an der Alexandru-loan-Cuza-Universität in Jassy; Blaise Pascal-Professur an der Ecole Normale Superieure in Paris; Gastprofessor u. a. in Bukarest, Paris, Fribourg. Jacob- und Wilhelm-Grimm-Preisträger für das Jahr 2000. Franz Kain-Kolloquium 2000 1999 fand in Wien erstmals ein Franz Kain-Kolloquium zum Thema “Möglichkeiten und Grenzen des Schreibens gegen den Faschismus ‚einst‘ und ‚jetzt‘ statt. Am 12. und 13. Oktober 2000 wird es im Adalbert Stifter-Haus in Linz fortgesetzt. Veranstalter sind das Adalbert Stifter-Institut des Landes Oberösterreich und die Theodor Kramer Gesellschaft. Am Kolloquium werden die SchriftstellerInnen Erich Hackl, Eugenie Kain, Anna Mitgutsch, Walter Wippersberg und Walter Kohl teilnehmen. Das Thema wird diesmal die Aktualität des Mitleids in der Literatur sein. Das genaue Programm wird in ZW 3/2000 und in Einladungen noch bekanntgegeben. Dem Land Oberösterreich und der Stadt Linz dürfen wir bereits jetzt für die zugesagte Unterstützung danken. 25