OCR
„Ein europäischer Dichter, der in jüdischer Sprache schreibt“, so nannte Alfred Margul-Sperber den jiddischen Poeten Itzig Manger. 1901 in Czernowitz, der großen Stadt der deutschsprachigen Literatur am äußersten Rande der österreichischungarischen Monarchie geboren, entschied er sich ganz bewußt für das Jiddische. Die erste Jiddische Sprachkonferenz, bei der sich die Delegierten darauf einigten, das Jiddische neben dem Hebräischen als eine der Nationalsprachen der Juden anzuerkennen, fand im Jahr 1908 in Czernowitz statt. Doch die jiddischen Schriftsteller hatten es schwer, ihre Sprache als Literatursprache durchzusetzen. Das Schulwesen in der Bukowina war durchwegs deutsch, und auch Itzig Manger besuchte die deutsche Volksschule und das deutsche Gymnasium in Czernowitz. In seinem dichterischen Schaffen griff Itzig Manger auf jiddische Volkslieder und Folklore zurück. Seine „Megile lider“ setzten die Tradition des Purimspiels fort, das die Erzählung des Esterbuchs zum Inhalt hat und spätestens seit dem 17. Jahrhundert unter den osteuropäischen Juden weit verbreitet war. Zu seinen literarischen Vorbildern zählten die Broder Sänger, die im 19. Jahrhundert durch Galizien, Rumänien und Rußland zogen und meist in Weinschenken und Gasthäusern ihre durchwegs von sozialen Motiven beherrschten Lieder vortrugen wie der galizische Dichter und Maskil (Vertreter der osteuropäischen jüdischen Aufklärung) Welwel Zbarazher Ehrenkranz. Ähnlich wie die Broder Sänger und Welwel Ehrenkranz nahmen auch in Mangers Balladen sozialkritische Themen einen breiten Raum ein. Er gilt als Dichter der Armen, der kleinen Handwerker und Hausierer des osteuropäischen Schtetls. „Tagsüber, in welcher Stadt immer er auch weilen mochte, von Schenke zu Schenke bummelnd, stets einen Bierkrug, ein Schnapsglas, eine Weinflasche vor sich auf dem Tisch, nachts skandierend — auf einer Parkbank liegend oder auf der Landstraße dahinschlendernd, kam er tagelang nicht aus den Kleidern, durch die „der Wind bellte“. Seine Zunge war gefürchtet, sie schonte niemand und nichts | beschreibt Alfred Kittner den Bürgerschreck. Manger entstammte einer Schneiderfamilie, sein Bruder Note, der wie sein Vater von den Nazis ermordet wurde, und dem er zahlreiche seiner Gedichte widmete, arbeitete Zeit seines Lebens als Schneidergeselle. Auch Manger selbst hatte das Schneiderhandwerk erlernt, bevor er als Dichter reüssierte. Ende der zwanziger Jahre übersiedelte er nach Warschau, wo 1929 sein erster Gedichtband „Schtern ojfn dach“ erschien. Vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs konnte er sich ins Exil nach Paris und später nach London retten. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er in New York und in Israel. Itzig Manger war mit vielen der berühmten deutschsprachigen Schriftsteller aus der Bukowina eng befreundet, unter ihnen Rose Ausländer, Alfred Margul Sperber und Alfred Kittner, die auch einige seiner Gedichte ins Deutsche übersetzten.? Ähnlich wie bei diesen reflektiert sich auch in seinem Werk eine starke Verbundenheit mit der österreichisch-ungarischen Kultur. Als Manger seine literarische Karriere begann, war die Monarchie bereits untergegangen, und doch erzählen viele seiner Balladen vom Leben der galizischen und bukowinischen Juden im Habsburgerreich. Dabei schwingt jedoch stets eine ironische Note mit. Itzig Manger ist weit davon entfernt, einen 52 Mythos vom goldenen Zeitalter aus dem Vielvölkerstaat und dem von seinen jüdischen Untertanen geschätzten Kaiser Franz Joseph, der in der jüdischen Volkssage liebevoll Efraim Jossele genannt wurde, zu machen.” Sein Blick ist geschärft für die krassen sozialen und gesellschaftlichen Unterschiede, die das Leben bestimmen. Auch den Segnungen der westlichen Zivilisation steht er durchaus kritisch gegenüber, sieht sie ohne den Nimbus verheißungsvoller Freiheit und grenzenlosen Humanismus. In seiner Ballade „Der Schneidergeselle Note Manger singt fun der goldener Pawe“, fliegt die goldene Pawe (der goldene Pfau) nach Wien, um mit dem Kaiser Franz Joseph eine Wette abzuschließen, wer schneller von Wien ins galizische Schtetl Jablonow (auf jiddisch Stoptschet) gelangen kann. Der Schneidergeselle Note Manger singt von der goldenen Pawe Der blasse Schneidergeselle Singt bei der Singer Maschin Das Lied von der goldenen Pawe Geflogen ist sie nach Wien In Wien wohnt der Kaiser Franz Josef Sein Backenbart glänzt hell Die Pferde in seinen Ställen, Sie sind so flink und schnell Nicht Pferde, sondern Adler, Sie fliegen dahin geschwind Jagen über den Wolken, Jagen über dem Wind. Da singt die goldene Pawe: „Eins und eins macht zwei. “ Den Schneidern komm‘s zu Gute, Daß sie schneller sei: „So will’s der Brauch, mein Kaiser, Die Wette gilt, schlag ein, Schneller als deine Adler Will ich in Stoptschet sein.“ Sagt der Kaiser: „So sei’s drum!“ Sattelt und zäumt seine Pferd, Er knallt mit der silbernen Peitsche Zu drehen beginnt sich die Erd — Städte, Dörfer und Wälder Im Nu hat er Böhmen durchritten, Wälder, Seen und Brücken Im Nu die galizische Grenz überschritten. Vorbei an Krakau und Lemberg Vorbei an Kolomea — Der Kaiser knallt mit der Peitsche: Hopp, hüa und hea.