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Aufgezeichnet und vorgestellt von Cecile Cordon Die Interviews mit Josef Kinsbrunner führte ich im Herbst 1998 im Moses-Maimonides-Elternheim in Wien. Kinsbrunner, geboren 1906 in Czernowitz, wurde 1941 zur sowjetischen Armee einberufen. Seit 1964 lebte Josef Kinsbrunner in Wien, seit 1996 im jüdischen Elternheim in Döbling, wo er im September 1999 überraschend verstorben ist. Kinsbrunner erzählte sehr zusammenhängend seine Lebensgeschichte von 1940 an. Meine Zwischenfragen hatten nur die Funktion, den Erzählfluß nicht abbrechen zu lassen oder mir Unverständliches zu klären. Bei der Abschrift der Tonbänder versuchte ich, Kinsbrunners Erzählduktus nicht zu verändern, und habe mich auf wenige behutsame Eingriffe beschränkt. — C. Cordon. Einmarsch der Roten Armee in der Bukowina Die Russen sind am 28. Juni 1940 in die Bukowina mit, allerdings nicht offizieller, deutscher Hilfe einmarschiert. Die Basis dafür bildete der Hitler-Stalin-Pakt. Die Rumänen traten den Rückzug an. Ein Teil der Bevölkerung flüchtete damals nach Bukarest. Die deutschstämmigen Bukowiner sind nach Deutschland ausgewandert, die Menschen, die nichts zu verlieren hatten, und natürlich auch solche, die ihren Besitz nicht verlassen wollten, sind geblieben. Ich bin natürlich geblieben, da ja meine Familie, meine Mutter, meine Brüder in Czernowitz waren, und wir ja auch Besitz hier hatten. Ich kann mich noch genau erinnern, wie die Russen einmarschiert sind. Sie sind in weissen Hosen und Turnschuhen gekommen. Plötzlich mußten wir beim Einkaufen überall Schlange stehen. Ich erinnere mich auch, daß ich eines Tages bei einem Geschäft vorbeigekommen bin, vor dem sich viele Menschen angestellt hatten. Ich fragte eine Frau, was denn hier verkauft würde. Sie antwortete, daß sie es nicht wisse, aber irgendetwas wird man hier wohl kaufen können. Alles, was bei mir monatelang im Geschäft gelegen hatte, konnte ich jetzt verkaufen. Der Wechselkurs war offiziell 4 Lei = 1 Rubel. Aber inoffiziell konnte man für einen Rubel 40 Lei bekommen. Eine Bekannte hatte eine goldene Uhr zu verkaufen und bekam 1.000 Rubel dafür, das sind 40.000,- Schilling. Die Russen haben alles gekauft. Sie sind mit Autos gekommen und haben alles gekauft. Zahlreiche Wohnungen waren frei, da viele Menschen geflüchtet waren. Ich hatte damals eine Vertretung von Flaschenweinen. Zuerst für eine große Firma, dann habe ich mich selbständig gemacht. Mein Kompagnon war ein gewisser Wilhelm. Er war eigentlich ein Sozialist und hatte die Sozialdemokratie mit großen Summen unterstützt. Seine Kinder waren Kommunisten. Der eine Sohn ist dann als Freiheitskämpfer nach Spanien gegangen und dort gefallen. Der andere war in Asien unterwegs und hat für den Kommunismus Propaganda gemacht. Die Tochter mußte Rumänien verlassen. Man hatte dem Vater gedroht, wenn sie Czernowitz nicht verläßt, wird man sie verhaften. Sie fuhr dann nach Paris. Ich glaube, sie lebt noch heute in Berlin. Sie mußte allerdings dann auch nach Sibirien. Man hatte ihre ganze Familie nach Sibirien deportiert, obwohl sie Sozialisten und Kommunisten waren. Ich habe ihn damals vor seiner Deportation noch gefragt, was er zu „seinen Kommunisten“ meint. Seine Antwort war nur: „Daß sind eben die Anfangsschwierigkeiten. Mit der Zeit wird auch hier wieder Ruhe und Ordnung eintreten.“ Er hat mir dann einen Brief geschrieben, als ich schon selbst in Rußland war, und hat mich gebeten, da er im Wald arbeiten mußte, ihm ein bißchen Geld zu schicken. Ich habe das gemacht. Er ist auch in Sibirien gestorben. Seine Tochter hat mir eines Tages aus Berlin geschrieben. Das Leben der Czernowitzer Juden in dieser Zeit Ich kann Ihnen auch etwas Persönliches aus dieser Zeit erzählen, damit Sie sich ein Bild von damals machen können: Ich hatte damals einen Freund, dessen Schwiegervater Friseur war. Rudi Kranz hat er geheißen. Eines Tages kam er bei mir vorbei und meinte: „Komm, gehen wir zu meinem Schwiegervater.“ Es war schon die Zeit, in der man die Leute deportierte. Und es passierte, da fiir die Lastwagen, mit denen die Leute deportiert wurden, eine bestimmte Anzahl vorgesehen war, daß man Leute, die unterwegs von oder zur Arbeit waren, einfach mitgenommen hat und nach Sibirien verschickte. Egal, ob sie reich oder arm waren und Bürgerliche oder nicht. Rudi Kranz hatte man bereits einmal festgenommen und an die Sammelstelle gebracht. Er wehrte sich natürlich mit Händen und Füßen gegen eine Deportation. Anscheinend erregte er das Mitleid eines russischen Juden, und dieser fragte ihn, ob er nicht eine Wohnung für ihn wüßte, da er Frau und Kind in Kiew habe und die beiden auch hierher bringen möchte. Dieser Mann war der Leiter unserer Post. Sagte mein Freund: „Ja, wenn Sie mich und meinen Freund hier herausholen und in Ihrer Post anstellen.“ Wir mußten ja unbedingt Arbeit nachweisen können. Wer ohne Arbeit war, war ein unnützer Bourgois und kam ins Arbeitslager. „Ja“, sagte der Mann, „wenn Sie eine anständige Wohnung für mich finden, nehme ich Sie in die Post, und jetzt können Sie gehen.“ Also kam Rudi zu mir und wir sind auf Suche gegangen. Wir waren doch damals vogelfrei. Unser Geschäft war von uns schon verlassen und aufgelöst worden. Und wirklich, wir haben eine schöne Wohnung gefunden. Und der Russe hat uns dafür in der Post angestellt. Meinen Freund hat er in die Buchhaltung genommen, auch die Frau meines Freundes. Mich hat er als Verwalter angestellt. Ich bin auf diese Weise Verwalter der Post geworden. Der Russe ist zwei Monate dort Postdirektor geblieben. Verdient haben wir 260 Rubel, davon konnten wir zehn Tage leben. Wir haben in dieser Zeit mit allem gehandelt, was gebraucht wurde. Eines Tages brauchte der Russe eine Bettdecke, haben wir ihm eben eine von unseren Bettdecken verkauft. Nachdem ich also Postverwalter war, hat man von mir verlangt, ich solle meine Biografie schreiben, wer mein Vater war usw. Einberufung zum russischen Militär Dann wurden wir zum militärischen Arbeitsbataillion einberufen. Sie haben uns Uniformen gegeben und sogar ein Gewehr in die Hand gedrückt. Und dann hat man uns verladen in Waggons mit Munition und allem drum und dran. Als wir abfuhren, kamen hinter uns schon die Deutschen. Wir mußten durch ihren Kugelhagel hindurch. Wir haben zurückgeschossen. Das 63