OCR
tremen Verwirklichung. Unter den meisten ‚gewöhnlichen Deutschen‘ gab es Einverständnis mit der Absonderung der Juden und ihrer Entlassung aus dem öffentlichen Dienst; es gab individuelle Initiativen, um aus ihrer Enteignung Nutzen zu ziehen; und es gab ein gewisses Maß an Schadenfreude beim Mitansehen ihrer Erniedrigung. Doch außerhalb der Reihen der Partei gab es keine massive Agitation in der Bevölkerung, die darauf gerichtet war, sie aus Deutschland zu vertreiben oder Gewalttätigkeiten gegen sie zu entfesseln. Die Mehrheit der Deutschen akzeptierte einfach die vom Regime unternommenen Schritte und sah (...) weg. Aus den Reihen der Partei ergoß sich der Haß in immer brutalerer und offenerer Weise.“ (S. 348) Bernhard Kuschey Saul Friedländer: Das Dritte Reich und die Juden. Die Jahre der Verfolgung 1933-1939. München: C. H. Beck 1998. 458 §. DM 58,-/ ÖS 423,Der Berliner Denkmalstreit 1.298 Seiten im Großformat, zweispaltig, dabei übersichtlich und lesefreundlich gedruckt - allein die Arbeit der Setzer dieser vier Kilo schweren Dokumentation - sie bringt gleichwohl ein Kilo weniger auf die Waage als die 1998 bei DVA in Stuttgart erschienene „Geschichte der deutschen Einheit in vier Bänden“ — nötigt Hochachtung ab. Und das gesamte Vorhaben nicht minder: „Der Anspruch dieser Dokumentation“, die rund 750 Beiträge umfaßt, „ist es, die gesamte Debatte, ihre Vorgeschichte und ihren Verlauf, die Wettbewerbsverfahren sowie die öffentliche Auseinandersetzung um das Projekt unter Berücksichtigung des weitgespannten Spektrums der Meinungen und Akzentuierungen sicherlich nicht vollständig und lückenlos, aber doch in repräsentativem Umfang darzustellen, und zwar durch die authentischen Dokumente selbst, die für sich sprechen mögen. Dabei wird der Gegenstand der Diskussion, die Wettbewerbsverfahren und die künstlerischen Entwürfe, die in Wort und Bild präsent sind, mit den Stimmen und Stellungnahmen der öffentlichen Debatte verschränkt“ (S.7). Die drei Herausgeber haben an der gesamten, über zehnjährigen Diskussion mitgewirkt: Ute Heimrod richtete im Auftrag des Berliner Senats den ersten Wettbewerb, die drei Kolloquien und das zweite Entwurfsverfahren aus; Günter Schlusche koordinierte fachlich für den Senat und war Mitgutachter bei der Standortfrage; Horst Seferens ist Pressesprecher der „Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten“. Natürlich liest man eine solche Dokumentation nicht „am Stück“; für den Benutzer um so wichtiger sind deshalb, neben einer relativen Vollständigkeit (Radio- und Fernsehkommentare z. B. werden nicht berücksichtigt) Kriterien wie die Übersichtlichkeit der Darbietung und die Erschließung der Fülle des Materials. Sie sind hier erfüllt. Die Geschichte des Projekts beginnt in Kapitel 2 mit dem 1983 ausgelobten (und im Ergebnis nie realisierten) Wettbewerb des Berliner Senats zur Gestaltung des ehemaligen Gestapo-Geländes (Prinz-Albrecht-Palais) und der dadurch in den Folgejahren ausgelösten Diskussion. Am 24.8. 1988 forderte die Journalistin Lea Rosh auf einer Veranstaltung, auf diesem Gelände ein Denkmal für die ermordeten Juden Europas zu errichten. Die daraufhin entstandene Bürgerinitiative „Perspektive für Berlin“ führt schließlich am 7.11. 1989 zur Gründung des „Förderkreises zur Errichtung eines Denkmals für die ermordeten Juden Europas“. Im Januar 1990 schlägt der Förderkreis das Gelände der ehemaligen Ministergärten als Standort für das Denkmal vor.; am 24.4. 1992 treten die Bundesregierung und der Senat von Berlin dem Vorhaben bei. Umstritten war von Anfang an bis in die jüngste Zeit die Frage der Konzeption, die auch der erste Exkurs erörtert : Denkmal für die ermordeten Juden oder für alle Opfer der Nazis? Exemplarisch dafür ist etwa die Kontroverse mit dem Zentralrat Deutscher Roma und Sinti. Kapitel 3 ist dem künstlerischen Wettbewerb für die Gestaltung des Denkmals gewidmet. Es enthält den Text der Ausschreibung, aufgrund derer 528 Entwürfe eingereicht wurden, die Entscheidung der Jury und verzeichnet die Reaktionen in der Öffentlichkeit auf die Entscheidung: Am 28.6. 1995 einigten sich die Auslober darauf, den Entwurf von Christine Jackob-Marks/Hella Rolfes auszuführen, eine elf Meter hohe, begehbare, fast 100 mal 100 Meter große, geneigte Ebene aus Beton, in die nach und nach die Namen aller ermordeten Juden eingraviert werden sollten. Das Echo auf die Entscheidung der Jury war weitgehend negativ. Bundeskanzler Helmut Kohl fand den Vorschlag „unpassend monumental“, und in einer dürren Pressemitteilung des damaligen Regierungssprechers vom 30.6. 1995 (an der sich offensichtlich die Phantasie des Setzers entzündet hat) wurde dem Modell die Zustimmung verweigert. Der Exkurs zur Ikonographie, der sich an dieser Stelle der Debatte sinnvollerweise anschließt, vertieft die hier aufgeworfenen Fragen. Mag sein, daß die Erinnerung trügt; doch es scheint, daß die ästhetische Auseinandersetzung um die Neue Wache, insbesondere um die Angemessenheit einer Vergrößerung der Skulptur von Käthe Kollwitz, ein lebhafteres und breiteres Echo gefunden hat als die um das Holocaust-Denkmal und die damit verknüpften Fragen nach der künstlerischen Darstellbarkeit. Die beiden kurzen Kapitel 4 und 5 befassen sich mit dem Fortgang der Debatte über die Gestaltung des Denkmals sowie mit der maßgeblich auf Initiative des SPD-Abgeordneten Peter Conradi zustande gekommenen erste Bundestagsdebatte vom 9.5. 1996. Kapitel 6 dokumentiert auf fast 240 Seiten die drei außerordentlich lehrreichen Kolloquien, die der Berliner Senator für Wissenschaft, Forschung und Kultur als Sprecher der Auslober am 10.1., 14.2. und 11.4. 1997 veranstaltet hat. Auf den letzten Exkurs, den Überlegungen zum Standort des Denkmals, folgt auf 310 Seiten in Kapitel 7 das engere Auswahlverfahren von 1997/98. Denn als Ergebnis des dreistufigen Kolloquiums erklärten die Auslober, daß die siegreichen Entwürfe aus dem ersten Wettbewerb nicht verwirklicht, sondern daß in einem neuen, engeren Auswahlverfahren noch einmal Entwürfe eingeholt werden sollten. Im Juli 1997 werden in diesem nicht anonymen Auswahlverfahren 25 Künstler aus dem In- und Ausland, darunter die ersten neun Preisträger des Wettbewerbs von 1994/95, um Entwürfe gebeten. Achtzehn Beiträge gehen ein; vier davon, nämlich die Projekte von Jochen Gerz, Gesine Weinmiller, Daniel Libeskind und Peter Eisenman/Richard Serra, werden für die Realisierung ausgewählt. Dokumentiert werden die Ausschreibung, die Entwürfe des engeren Auswahlverfahrens, der Entscheidungsproze vom November 1997 und — hier besonders ausgiebig — die Reaktionen der Offentlichkeit auf die einzelnen Stadien des Verfahrens, das zu dem überarbeiteten Entwurf von Peter Eisenman (,,Eisenman II,,) führte und schließlich, im August 1998, zur Vertagung: „Holocaust-Mahnmal: Entscheidung fällt erst nach der Wahl“ (S.1119). Das letzte Kapitel (140 Seiten) verfolgt die Entwicklung nach dem Regierungswechsel (Koalitionsvertrag, Regierungserklärung, Auseinandersetzung um die — sich ja durchaus wandelnden — Vorstellungen von Michael Naumann und um das ,,Kombinationsmodell“) bis zur öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Kultur und Medien des Deutschen Bundestages am 20.4. 1999 in Berlin als Vorbereitung auf die Entscheidung des Plenums, die mit dem Beschluß vom 25. Juni 1999 einen — vermutlich nur vorläufigen — Abschluß gefunden hat: „Der Entwurf von Peter Eisenman (Eisenman II) wird realisiert. Dazu gehört ergänzend im Rahmen dieses Konzepts ein Ort der Information über die zu ehrenden Opfer und die authentischen Stätten des Gedenkens.“ Das ausführliche Quellenverzeichnis führt eine Vielzahl von Quellen auf, darunter auch entlegene oder schwer zugängliche: Informationsbriefe des Bundestagsabgeordneten Peter Conradi z. B. sowie Briefe an die Mitglieder des Deutschen Bundestages und Pressemitteilungen von den verschiedensten Institutionen; Sitzungsprotokolle und Vermerke - und sogar die Eintragung Helmut Kohls im Besucherbuch der Ausstellungen der Arbeiten zum Denkmal für die ermordeten Juden Europas vom 21.1. 1998 fehlt nicht. Unter den Zeitungen, deren Berichte abgedruckt werden, führt der Berliner „Tagesspiegel“ unangefochten mit 149 Beiträgen, gefolgt von der „Frankfurter Allgemeinen“ (86), der „Berliner Zeitung“ 85