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„Haben Sie denn auch mein politisches Buch gelesen?“, fragte Elisabeth Freundlich mich gleich bei unserem ersten Gespräch. Ich hatte sie wenige Tage zuvor angerufen, ich wolle meine Dissertation über sie schreiben und hätte sie deshalb gerne persönlich befragt. „Da gibt es aber Berühmtere als mich“, wandte sie ein. Ja, aber ich wolle nun einmal über sie schreiben. „Na, dann kommen Sie halt‘, meinte sie. An einem grauen Morgen im Jänner 1989 fuhr ich in aller Früh von Großgmain nach Wien. Elisabeth Freundlich stand, viel kleiner als ich sie mir vorgestellt hatte, in der Tür ihrer Wohnung in der Florianigasse. Trotz ihrer Skepsis am Telefon waren wir binnen kürzester Zeit in einer intensiven Unterhaltung anstelle eines „sachlichen“, wohlgeordneten Interviews. Wir sprangen durch Themen und Jahre, brachten keinen Gesprächsfaden zu Ende, weil wir jeweils auf einen neuen Zusammenhang stießen, der seinerseits einen wieder anderen aufdrängte ... Wir redeten bis zum Abend, und irgendwann fragte Elisabeth Freundlich dann eben, ob ich ihr „politisches“ Buch gelesen hätte. Nun ist ja keines ihrer Bücher unpolitisch, aber ich wußte sofort, daß sie „Die Ermordung einer Stadt namens Stanislau‘ meinte. Selbstverständlich hatte ich es gelesen. Ich erzählte ihr, wie nahe mir die Lektüre gegangen war. „Dann können Sie sicher verstehen“, sagte sie, „welche Kraft mich allein die Recherche gekostet hat.‘ Die Kraft weiterzuschreiben, so erzählte sie mir später einmal, sei ihr mehrmals fast ausgegangen. Stanislau war eine Stadt in Ostgalizien (Westukraine), die erste Stadt in Galizien, die im Juni 1943 als „judenfrei“ nach Berlin gemeldet werden konnte. Elisabeth Freundlich rekapituliert in ihrem Werk die Aktionen, die dazu führten. Auftakt bildete ein Massaker am Sonntag, dem 12. Oktober 1941, dem letzten Feiertag des Laubhüttenfestes. Im Laufe dieses Tages wurden auf dem jüdischen Friedhof von Stanislau zwölftausend (12.000) Menschen erschossen. Doch nicht nur die „örtlichen Aussiedlungen“, wie die SS die Massenmorde nannte, werden akribisch genau dargestellt, bedeutsamer sind die Zusammenhänge, die sie zur Rassepolitik, zu Bodenbeschaffungsplänen, aber auch zur Vorgeschichte herstellt. Da sie jahrelang als Berichterstatterin von NS-Prozessen gearbeitet hatte, wußte sie auch, welche Farce diese Prozesse vielfach waren. „Die Ermordung einer Stadt namens Stanislau“ erschien 1986. In diesem Jahr wurde Elisabeth Freundlich achtzig Jahre alt. Beim Zsolnay-Verlag erschien ihr Roman „Der Seelenvogel“ und beim Persona-Verlag ihre Erzählungen „Finstere Zeiten“. Außerdem wurde sie von der Republik Österreich mit einem Ehrenprofessorat bedacht. Gleich drei Publikationen! Und dazu die offizielle Auszeichnung! Auf den ersten Blick ein sehr erfolgreiches und produktives Jahr. Allerdings nur, wenn man nicht weiß, daß Elisabeth Freundlich den ,,Seelenvogel‘ mitbrachte, als sie 1950 aus dem Exil in den USA zurückkam, daß das Manuskript damals von allen Verlagen abgelehnt wurde, und daß sie — wie sie in ihrer Autobiografie schreibt — lange Zeit das Gefühl hatte: „Wir sind unerwünscht.“ Welche Verletzung für jemanden, der vom ersten Tag der Flucht an die Rückkehr in die Heimat nie in Frage gestellt hatte. Ihr politisches Buch lag ihr auch deshalb so sehr am Herzen, weil es „Danksagung war, daß meine Eltern und ich den Holocaust überlebt haben“. Elisabeth Freundlich war die 1906 geborene Tochter des Juristen Jakob (Jacques) Freundlich und seiner Frau Olga (geb. Lanzer), einer Sängerin, die für Mann und Kind die Karrierepläne aufgegeben hat, aber im Kollegenkreis weiterhin viel musiziert, sodaß schon aus diesem Grund viele Künstler im Hause verkehren. Als prominenter Sozialdemokrat hatte der Vater Kontakt zu politischen Persönlichkeiten, ebenso zu Sympathisanten unter den Intellektuellen. Das Milieu, in dem Elisabeth Freundlich aufwuchs, war musisch, aufgeklärt, fortschrittlich und weltoffen, wohlhabend, aber ohne Standesdünkel. Das kleine Mädchen erfährt solche menschliche und moralische Haltung der Umgebung als selbstverständlich und wird durch die Aufgeschlossenheit der Eltern sehr gefördert. Noch prägender muß die Zärtlichkeit und Liebe gewesen sein, von der sie um