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Jeder Wissenschaftler, also auch jeder Historiker, geht in seinen wissenschaftlichen Arbeiten von bestimmten Voraussetzungen aus, die sowohl die Wahl des zu untersuchenden Gegenstands als auch die Interpretation des erforschten Materials beeinflussen. Nur wenige Historiker waren und sind sich jedoch ihrer Voraussetzungen so klar bewußt oder haben darüber so genau Rechenschaft abgelegt, wie der am 17. Dezember 2000 Wochen kurz vor seinem 82. Geburtstag in Tel Aviv verstorbene Walter Grab. „Ich bin der Überzeugung“, schrieb er im Vorwort zu seiner Autobiographie, „daß der der gesamten Menschheitsgeschichte grundlegende Sinn darin besteht, zur Gleichheit, also zur Gleichwertigkeit aller Menschen zu streben.“ Daraus erklärte er sein wissenschaftliches Interesse für Demokratie und für die Menschen und gesellschaftlichen Bewegungen, die sich für deren praktische Verwirklichung in der jeweiligen politischen Ordnung eingesetzt haben. Dazu kam, daß Walter Grab im Jahre 1938 sein Studium unterbrechen und seine österreichische Heimat verlassen mußte, weil eine Bewegung an die Macht gekommen war, die, entgegen den Prinzipien der Demokratie, den Juden das Recht nicht nur auf Gleichheit sondern auf das Leben selbst absprach. Nach dieser Erfahrung suchte Walter Grab eine Antwort auf die Frage, weshalb die Demokratie in Deutschland und Österreich damals auf so schwachen Füßen stand, daß sie durch eine in diesen Ländern entstandene Massenbewegung kurzerhand zerstört werden konnte. Walter Grabs Emigrantenschicksal in Israel brachte es mit sich, daß er erst im Alter von 40 Jahren seine Studien wieder aufnehmen, sich seine wissenschaftlichen Interessen widmen und auf die Suche nach den Fragen, die ihn beschäftigten, begeben konnte. Er betrieb seine historischen Studien dann auch mit entsprechender Akribie und Intensität. Da er bei Fritz Fischer in Hamburg dissertierte, galten seine ersten Forschungen jenen norddeutschen Aufklärern, die im Zeitalter der Französischen. Revolution in ihrem Land die bestehenden feudalen Standesprivilegien durch eine auf Demokratie und Gleichheit aller Staatsbürger gegründete politische Ordnung ersetzen wollten. Nachdem die Dissertation 1966 im Druck erschienen war, dehnte Walter Grab seine Untersuchungen auf andere deutsche Territorien sowie auf die nach-napoleonische Zeit aus. In schneller Reihenfolge erschienen aus seiner Feder weitere Schriften, in denen er die Vorstellungen der radikalen Aufklärer und Demokraten analysierte, den Ursachen für ihr Scheitern nachging und einschlägige Quellen veröffentlichte und kommentierte. Aus seinen Sympathien für jene, die ihre demokratischen Vorstellungen am konsequentesten zu verwirklichen suchten, sei es mittels Agitation unter ihren Mitbürgern, sei es durch Zusammenarbeit mit den in die deutschen Territorien eindringenden Armeen des revolutionären Frankreich, machte er kein Hehl. Er nannte diese konsequenten, kämpferischen Aufklärer deutsche Jakobiner und würdigte sie als Initiatoren demokratischer Traditionen in der deutschen Geschichte, die sich von dem noch vorherrschenden Untertanengeist emanzipiert hatten. Ihre Vernachlässigung durch die zünftige deutsche Geschichtsschreibung des 19. und 20. Jahrhunderts lastete er dieser als schwere Unterlassungssünde an. Walter Grabs außerordentliche Erzählkunst, sein packender Stil, sein auf fast jeder Seite feurig zum Ausdruck gebrachtes Engagement für die von den deutschen Jakobinern verfochtene Sache, half seinen Büchern zu einem Erfolg, um den ihn die meisten akademischen Historiker nur beneiden können. Besondere Freude bereitete ihm der Umstand, daß Bundespräsident Gustav Heinemann von seinen Büchern Notiz nahm und aus seinen Forschungsergebnissen Anregung und Edith Rosenstrauch, Walter Grab, Ernst Wangermann 9