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Gefühl existiert auf der ganzen Welt. Der Prozeß der Privatisierung, Individualisierung, Zerbröckelung, wie immer man ihn nennen mag, ist schwierig aufzuhalten. Wer seine Seele vor dem Ausland verschließt, will bald nichts mehr hören über die Menschen in seiner direkten Umgebung“, warnt Durlacher. Jedoch in den Niederlanden finden Schüler seine Bücher auf ihren Literaturlisten und in Deutschland protestieren Tausende von jungen Leuten gegen die Neonazis. Beides ermutigt ihn ein wenig (Met haat, S. 116 ff.). „Die Sünde der Gleichgültigkeit“ ist der Titel eines früheren Textes, den Durlacher 1987 für einen Studientagung schrieb, die die „Gewalt gegen Kinder in Südafrika“ zum Thema hatte. Er erinnert daran, daß Gleichgültigkeit das große Morden im 20. Jahrhundert ermöglicht hat: Millionenmorde an den Armeniern in der Turkei, in der Sowjetunion auf Stalins Befehl, an Juden und ‚Zigeunern’ unter Hitler, an chinesischen Bürgern unter Mao Zedong und dessen Frau, der Ibos in Afrika, der Bangladeschi und Kambodschaner in Asien und jetzt (1987) die steigenden Todesziffern speziell unter Kindern in Südafrika. „Das Wort Gleichgültigkeit knirscht mir zwischen den Zähnen“, sagt Durlacher. „Ich versuche es zu ergründen bei mir selber und bei anderen.“ Wieder geht er aus von den eigenen erschiitternden Erfahrungen, die er in der Titelgeschichte von Streifen am Himmel so ergreifend beschrieben hat und zitiert aus dem dazu gehörenden Nachwort von 1982. Seitdem, meint er, „ist viel, zu viel an unseren Augen und Ohren vorbeigegangen, aber auch an unseren Herzen. Der Strom von Unmenschlichkeiten, der in den Medien und durch eigene Wahrnehmung an uns vorbeizieht, betäubt uns durch seine Gewalt, macht uns hoffnungslos und sogar apathisch. ... Niemand kann sich all dem Unrecht eröffnen, das täglich geschieht, nicht einmal allem, was er täglich sieht oder hört. Keiner kann wie Atlas die leidvolle Welt auf seinen Schultern tragen. Das ist jedoch keine Entschuldigung, um darum einfach nichts zu tun.“ Auch schnell das Scheckbuch zücken, um das Gewissen zu beschwichtigen und dann rasch wieder zum eigenen Alltag überzugehen, läßt Durlacher nicht gelten. Handelnd eingreifen ist notwendig. In diesem Zusammenhang verweist er auf Anna Seghers’ Erzählung „Aufstellung eines Maschinengewehrs im Wohnzimmer der Frau Kamptschik“ aus dem Jahr 1934, nicht um seine Hörer und Leser zu Waffentaten aufzurufen, sondern um ihr Bewußtsein wachzurütteln. Wenn wir unseren Kindern vorleben, daß man seine Stimme erheben muß „um Respekt vor unseren Mitmenschen zu verlangen, um nicht zu ruhen, bevor man uns zuhört, dann werden die mit Füßen Getretenen wissen, daß sie nicht allein und verlassen sind, wie wir damals, und daraus werden sie die Kraft schöpfen, um durchzuhalten in ihrem Schrei nach Gerechtigkeit“ (Verzameld werk, S. 507 ff.). Abschließend möchte ich noch kurz über das Fragment „Van Tivoli tot Danang“ referieren, weil Durlacher darin auf ganz persönliche Weise eine politisch bedeutsame Konsequenz zieht. Der Text geht wie alle Durlacher Erzählungen abermals auf schöpferische und äußerst komplexe Weise von Selbsterlebtem aus (Verzameld werk, S. 529-69): Seine Hochachtung vor der Haltung der Dänen während der Nazizeit verführt den Erzähler, den Medizinstudenten Durlacher, Anfang der Fünfzigerjahre dazu, per Autostop nach Dänemark zu reisen. Im Tivoli lernt er den jungen amerikanischen Juristen R. kennen, der als Berater der V.S. Luftwaffe mit seiner Frau unterwegs ist nach Wiesbaden. R. ist voller robu16 ster Lebenslust, ein Gegenpol zu Durlacher; seine Frau hingegen ist eine eher empfindsame Violistin. Es entsteht eine warme Freundschaft, in der später auch Durlachers Frau, Anneke, aufgenommen wird. Jedoch bereits bei seinem erstem Besuch in Wiesbaden merkt der Erzähler, wie R. in der priviligierten militärischen Umgebung langsam seine Progressivität preisgibt. Nachdem die amerikanischen Freunde in ihre Heimat zurückkehren, entwickelt sich ein Briefwechsel. Inzwischen tobt der Krieg in Vietnam. Amerikanische „Marines“ sichern die Luftwaffenbasis Danang. Im Frühjahr 1969, kurz nach dem amerikanischen Bombardement von Kambodscha, das den Vietnamkrieg auf furchtbare Weise eskaliert, kündigt R. eine bevorstehende Europareise an. Er möchte bei dieser Gelegenheit ein paar Tage bei den Freunden ausspannen. Nebenbei bemerkt er, daß er inzwischen Vize-Direktor von Kaiser Aluminium, der großen amerikanischen Flugzeug- und Waffenfabrik, geworden sei. Wütend schreibt Durlacher zurück, daß R. und die Seinen ihm nunmehr nur noch als Flüchtlinge des Nixon-Regimes willkommen seien. Frau Durlacher fügt in ihrem Nachwort hinzu, daß ihr Mann mit diesem Buch wie mit allem, das er schrieb, zeigen wollte, daß das das Persönliche und das Politische untrennbar sind (Verzameld werk, S. 585). Die folgenden Bücher Gerhard L. Durlachers erschienen auch auf deutsch: Streifen am Himmel. Vom Anfang und Ende einer Reise (1993); Ertrinken. Eine Kindheit im Dritten Reich (1994); Die Suche. Bericht über den Tod und das Überleben (1995); Wunderbare Menschen. Geschichten aus der Freiheit (1998) alle bei der Europäischen Verlagsanstalt/PRO in Hamburg, übersetzt von Maria Csolläny. Durlacher war sehr zufrieden mit den deutschen Übersetzungen (Vgl. Niet verstaan, S. 133). Die Durlacher-Zitate in obigem Text wurden jedoch von der Verfasserin aus dem niederländischen Original übertragen, da sie die deutschen Übersetzungen nicht zur Hand hatte. Laureen Nussbaum, geb. Klein, floh in der Nazizeit mit ihren Eltern und Schwestern aus ihrer Geburtsstadt Frankfurt/Main nach Amsterdam. Dort überlebte sie mit knapper Not die Besetzung, studierte einige Semester an der Amsterdamer Universität und zog 1957 mit ihrem Mann und drei Kindern in die Vereinigten Staaten, wo sie ihren Doktor in deutscher Sprache und Literatur machte. Sie wirkte als Professorin an der Portland State University, Portland, Oregon und veröffentlichte ein Buch und Dutzende wissenschaftliche Aufsätze, zuerst über das Werk von Bertolt Brecht und in den letzten 15 Jahren speziell über die literarischen Beiträge deutscher Flüchtlinge in die Niederlande, das heißt zu den Schriften Georg Hermanns, Fritz Heymanns, Grete Weils, Anne Franks und neuerdings Gerhard Durlachers. Dr. Laureen Nussbaum ist Professor emerita des Department of Foreign Languages and Literatures der Portland State University in Portland, Oregon (USA).