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Über 4.000 ÖsterreicherInnen fanden nach dem März 1938 Zuflucht in Shanghai — dem einzigen Hafen der Welt, in dem zu dieser Zeit eine Einreise ohne Visum gestattet war. Das erklärt die große Gruppe Österreichischer ExilantInnen an den vor den Verfolgungen der Nationalsozialisten nach Shanghai Geflohenen; sie machten rund ein Fünftel der insgesamt etwa 20.000 Flüchtlinge aus dem deutschsprachigen Raum aus. Shanghai war der exotischste, fremdeste und befremdendste von allen Exilorten, aber zugleich und gerade auch derjenige, an dem die Flüchtlinge am ausgeprägtesten ihre eigenen Traditionen lebten. Die ÖsterreicherInnen waren eine kulturell wie kulinarisch deutlich wahrnehmbare Gruppe, so daß von einem Teil des Wohngebietes der ExilantInnen als von „Little Vienna“ gesprochen wurde. Während - nicht zuletzt durch die vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands herausgegebenen Bände — inzwischen verschiedene Exilländer detailliert beschrieben wurden, liegt bisher noch keine umfassende Darstellung des Exils von ÖsterreicherInnen in Shanghai vor. Manches zum Thema Shanghai ist in Österreich bereits erschienen: verschiedene autobiographische Zeugnisse wie die längst vergriffenen Erinnerungen von Franziska Tausig: Shanghai-Passage (Wien 1987) oder die romanhafte Schilderung Alfred W. Kneuckers: Zuflucht in Shanghai (Wien/ Köln/Graz 1984), Dokumente wie die Theaterstücke Die Masken fallen und Fremde Erde von Hans Schubert und Mark Siegelberg (Hamburg 1996), Abschnitte in allgemeinen historischen Werken wie Von Österreichern und Chinesen (Wien 1980) von Gerd Kaminski und Else Unterrieder oder spezielle Untersuchungen wie die Wilfried Seywalds über Journalisten im Shanghaier Exil 1939-1949 (Salzburg 1987). Diese Ausgabe von ZW und die folgende beschäftigt sich mit dem Exil in Shanghai. Dabei wird nicht der Anspruch einer Gesamtdarstellung erhoben, sondern der Versuch unternommen, diesen abgelegenen und bisher oft übersehenen Exilort in seinen verschiedenen Facetten und in einer Mischung aus zeitgenössischen Dokumenten, wissenschaftlichen Darstellungen und Erlebnisberichten zu dokumentieren. Daß die AutorInnen aus vier Kontinenten kommen — Asien, Australien, Europa und Amerika — kann auch als ein Zeichen für die weltweite Streuung des Exils gelten. In den Beiträgen dieser Ausgabe widmen sich ForscherInnen verschiedenen Gesichtspunkten des Shanghai-Exils, angefangen mit David Kranzler, dem Nestor der Shanghai-Historiographie. Bevor Helga Embacher und Margit Reiter, Michael Philipp, Shoou-Huey Chang, Astrid Freyeisen und Marcus G. Patka soziologische, künstlerische und politische Aspekte darstellen, bringen wir eine zeitgenössische Studie des Wiener Arztes Felix Grünberger, der als Zeitzeuge die Geschichte des ShanghaiExils sachlich und im Rahmen der ihm 1948 zur Verfügung stehenden Materialien detailliert dokumentiert. Im Kontrast zu Grünbergers Ausführungen stehen zwei Berichte des Deutschen Generalkonsulats Shanghai an das Auswärtige Amt in Berlin aus den Jahren 1940 und 1941. Diese Dokumente der nationalsozialistischen Rassenideologie sind auf ihre Weise aussagekräftige Zeugnisse des Shanghai-Exils. Drei kurze Erzählungen aus dem Nachlaß von Susanne Wantoch, die sich von 1938 bis 1947 in verschiedenen Städten Chinas aufhielt, werden hier erstmals veröffentlicht. Einige Buchbesprechungen weisen auf Neuerscheinungen zum Exil in Shanghai hin. In einer weiteren Ausgabe (ZW 2/2001) werden Emigranten mit Erlebnisberichten zu Wort kommen, daneben wird es in den Beiträgen von Ulrike Ottinger, Ursula Krechel, Paul Rosdy, Simon Wachsmuth, David Kranzler und Antonia Finnane um künstlerische Auseinandersetzung mit dem Exil in Shanghai, aber auch um die historiographische Perspektive gehen. Wertvolle Hinweise und Kontakte für die vorliegende Ausgabe stammen von Ralph B. Hirsch, Philadelphia, und der in Shanghai geborenen Sonja Mühlbersger, Berlin. Paul Rosdy, Wien, stellte großzügig die für seinen Film in langjähriger Recherche zusammengetragene Fotosammlung zur Verfügung. Wesentlichen Anteil an dieser Ausgabe hat Marcus G. Patka, Wien, der verschiedene Beiträge anregte, die Auswahl der Fotos traf und erhebliche Koordinationsarbeiten übernommen hat. Ihnen allen sei herzlich gedankt. Michael Philipp Zu Michael Philipp vgl. die biographischen Angaben auf S. 51. o obo tir fe +. ee: ELIIZ KBELIIICTE ai AB an 17