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ren, sondern daß eine historische Epoche zu Ende gegangen war. Österreich: Hier war die Situation eine andere. Der Lebensstandard und die Schulbildung war geringer als jene in Deutschland. Auch hatte die ökonomische Krise weit härter zugeschlagen. In Österreich war die Mittelschicht (prozentual) an Zahl und Einfluß weit größer und bildete zugleich eine Massenbasis für den Antisemitismus mit langer Tradition. Ältere Österreicher erinnern sich insbesondere an den antisemitischen Einfluß der katholischen Kirche, die antisemitische Massenbewegung des christlich-sozialen Bürgermeisters von Wien und „Retter des kleinen Manns von der Straße“, Lueger, außerdem an den deutsch-nationalen Judenhasser Schönerer. Sie erinnern sich sehr genau an den üblen Ritualmordprozeß (gegen Leopold Hilsner) in Böhmen und daß der spätere Präsident der Tschechoslowakei, Masaryk, zu dieser Zeit Abgeordneter, mit großer Vehemenz gegen die Verleumdung der Juden auftrat. Somit war den Österreichern der Antisemitismus allzu gut bekannt, auch fühlten sie sich im Gegensatz zu den Deutschen als Minderheit. Viele überbetonten ihre Emanzipation und ihr Österreicher-Sein, um ihre jüdische Herkunft und Religion zu verbergen, was psychologisch gesehen nur eine weitere Bestätigung darstellt, daß sie sich als Minderheit fühlten, mißtrauisch und wehrlos gegen Attacken, die mit der ökonomischen Krise immer mehr zunahmen, da sich durch die Verschärfung des Wettbewerbs Gruppen-Egoismen herausbildeten, die sich gegen Schwächere wandten. Als Hitler (1938 in Österreich) an die Macht kam, bedeutete dies im Gegensatz zu Deutschland vom ersten Tag an eine Katastrophe. Schlagartig setzte die Massenemigration ein. Viele nahmen die abgrundtiefe Enttäuschung wegen der Niedertracht ihrer Mitbürger mit sich, die einer fremden Macht in die Hände gearbeitet hatten, ihre Heimat zu okkupieren. Polen: Hier war es noch schlimmer. Polen war ein vergleichsweise rückständiges Land bezüglich Wirtschaft, sozialer Standards und Volksbildung. Befördert von Massenhysterie und Interessengruppen, war der Antisemitismus in breiten Bevölkerungsschichten tief verwurzelt. Dort waren die Juden eine erklärte Minderheit. Zumindest von den Großeltern her kannten alle noch das Ghetto. Viele hatten wiederholt Pogrome miterlebt. Zahlreiche Berufe und Aktivitäten blieben ihnen verwehrt. Sie lebten in geschlossenen Gruppen in jüdischen Kleinstädten mit eigener Sprache, Verwaltung und Kleidung und von Geburt an in einer feindlichen Umwelt. Ihre Abwehr waren in Generationen gehärtetes Selbstbewußtsein, dann Mißtrauen, Einfallsreichtum, List und Gruppensolidarität. Sie waren immer in engem Kontakt zu schon bei früherer Gelegenheit geflüchteten Mitgliedern. In einem anderen Land angekommen, begannen sie unmittelbar und vehement ihre Gruppe zu unterstützen. Sie hatten nicht viel Geduld mit den emanzipierten Westjuden, und es kam zu vielen Mißverständnissen. Ihre Gruppensolidarität verließ sie niemals und bestätigte sich als starke moralische Kraft, auch wenn sie mitunter in Gruppenegoismus abglitt. Nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Polen organisierte sie mehr oder weniger allein die Flucht vieler Mitglieder auf oft abenteuerlichen Wegen. (...) Emigration und Ankunft Auf dem Schiff: Aus allen Städten und Bereichen des „Großdeutschen Reiches“ kommend, kannten sich die Flüchtlinge schon vom Hafen her. Sie hatten zehn Reichsmark oder vier US-Dollar bei sich. Die lokalen jüdischen Komitees waren weit überlastet und gaben ihr Bestes, so wenig dies im Endeffekt dann auch war. Die Reisenden hatten Taschen mit ihrem Besitz, einigen war es gelungen, Werkzeug oder Instrumente mitzunehmen. Viele mußten einen Teil des Gepäcks zurücklassen, das sie nie wiedersahen. Zumindest waren sie frei und unter Gleichgesinnten und nicht mehr brutaler Gewalt ausgeliefert. (...) Auf dem Schiff trafen Menschen mit gleichen Erfahrungen und einem gemeinsamen Ziel vor Augen zusammen: das ferne, unheimliche Shanghai. Vor allem anderen hatten sie ihr Selbstbewußtsein verloren. (...) Bei einem Streit konnte man oft hören: „Du bist doch genauso ein Nichts wie wir alle.“ (...) Doch die Schiffahrt selbst bot mitunter die Möglichkeit, sich wieder innerer Balance anzunähern: gute Unterbringung und 19