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Alltag im Flüchtlingsheim Foto: Sammlung David Kranzler Küche, freundliche Behandlung, vielfältige neuartige Eindrücke und das Bewußtsein, aus dem „Dritten Reich“ entkommen zu sein. Hinzu kam die lebhafte Anteilnahme der jüdischen Komitees in den angelaufenen Häfen. Somit wurden viele wieder aktiver, und ein Gruppenleben formierte sich. Profis und Amateure organisierten ein Unterhaltungsprogramm. Es gab Beratungen und Schiffskomitees. Einmal organisierte eine Gruppe von Frauen für das ganze Schiff ein Essen mit Wiener Küche. Neben dem Gemeinschaftsinteresse gab es auch persönlichen Ehrgeiz, da es sehr ermutigend war, wieder eine soziale Position einzunehmen. Dann gab es noch Wettstreit einzelner Untergruppen. Zurückzublicken war kontraproduktiv. So gab es z.B. noch echte Antagonismen zwischen Deutschen und Bu ng p cad ' — 117 rs Fa JE) I N 20 Österreichern, die jedoch nicht lange anhielten, da ihnen jetzt die Basis fehlte. (...) Je mehr sich das Boot Shanghai näherte, desto mehr beschäftigten sich die Menschen mit der Zukunft: Freundschaften entstanden, Geschäftspartnerschaften, sogar Ehen wurden geschlossen. Auch in Shanghai gab es viele Treffen von ehemaligen Mitpassagieren. Im Moment des Ausschiffens wurde allen schlagartig bewußt, daß die guten Zeiten jetzt vorbei waren. Ankunft in Shanghai In Shanghai änderte sich die Situation grundlegend. Schon auf dem Kai warteten Vertreter des örtlichen Hilfskomitees, gaben Auskünfte und händigten Informationszettel mit Warnungen bezüglich der mangelhaften Hygiene aus: „Trinken Sie kein ungekochtes Wasser! Berühren Sie nicht den Fußboden mit bloßen Füßen! Desinfizieren Sie Obst!“ Dies war notwendig und konfrontierte die Menschen mit der Gefahr zahlreicher Krankheiten. Die Stimmung wurde immer bedrückender. Nach Erledigung der Paßformalitäten wurde man zu Lastautos gebracht. (...) Ein kurzer Blick auf den Prachtboulevard mit Namen Bund bot einen Blick auf das moderne Shanghai, doch bald realisierten sich die Neuangekommenden, daß dies nicht für sie galt. Bald brachte sie das Lastauto durch dunkle und überbevölkerte Straßen an Ruinen und Müllhaufen vorbei zu einem Barackenlager. Nach den Formalitäten erhielt jeder eine mehr schwere als warme Decke und Bettzeug sowie einen Löffel, eine Tasse und einen Teller aus Zinn. Ab jetzt war man Lagerbewohner. Die Räume waren weit überfüllt, zwischen den Stockbetten war gerade Platz für eine Person, daher keiner für das Gepäck. Männer und Frauen, Junge und Alte teilten sich ein Zimmer, in einem Lager wie diesem gab es keine andere Möglichkeit. Entweder man separierte Eheleute, oder man versuchte möglichst viele Ehepaare in ein Zimmer zu verlegen mit allen Problemen, die daraus entstanden. Prinzipiell wollte man nach Geschlechtern trennen, aber das konnte nicht strikt eingehalten werden. (...) Viele Bewohner wurden zum ersten Mal in ihrem Leben mit einem Kübel anstelle einer Toilette konfrontiert. Das war der erste Eindruck vom Lager, dann kam das erste Essen im Ward Road Camp! Viele kamen noch adrett gekleidet, Damen trugen modische Hüte, so standen sie in einer Reihe mit ihrer Zinnschüssel und erhielten Eintopf und ein Stück Brot. Dies brachte ihnen die radikale Veränderung in ihrem Leben drastisch und symbolisch zugleich zu Bewußtsein. Die letzten Unterschiede zwischen den Passagieren waren hiermit gewichen. Wann immer eine neue Gruppe eintraf, gab es die selben Szenen: Ihre Gesichter wurden immer länger, Frauen weinten und beharrten darauf, hier keine Minute länger zu bleiben, zugleich wußten sie, daß es zumindest für die erste Zeit keine andere Wahl gab. Wie immer in solchen Situationen begannen die Alteingesessenen die Neuen zu trösten, was ihrem eigenen Selbstbewußtsein gut tat. Sie hatten ihren Schock schon überwunden und konnten jetzt Erfahrung und Überlegenheit demonstrieren, da sie sich schon durchgebissen hatten und sich besser auskannten. (...) Bedingungen in Hongkew Hier hatten (1937) die schwersten Kämpfe um Shanghai stattgefunden: Luftangriffe, Straßenkampf, eine Taktik der verbrannten Erde hatte diesen Ort in einen Müllhaufen