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I. Innerhalb der größten Tragödie des jüdischen Volkes seit der Zerstörung des Tempels, dem Holocaust, leuchteten einige wenige strahlende Lichter auf, die in der Dunkelheit des von Deutschland besetzten Europa nur um so heller erschienen. Eines der hellsten Lichter war wohl der Hafen von Shanghai, der für 18.000 meist deutsche und österreichische jüdische Flüchtlinge die Rettung vor den Krematorien war. Es verdient deshalb den Namen „Wunder von Shanghai“, umso mehr, als es ganz außergewöhnliche historische Kräfte waren, die Japan, eine der drei Achsenmächte, dazu veranlaßten, diesen sicheren Hafen Hitlers Erzfeinden zur Verfügung zu stellen. „Kristallnacht“ Zwei tragische Ereignisse des Jahres 1938 erwiesen sich als Glück im Unglück. Das erste ereignete sich am 13. März, als Hitlers Truppen in Wien einmarschierten, um mit dem „Anschluß“ zu beginnen. Anders als in Deutschland, wo die Nazis ihren Terror gegen die jüdische Bevölkerung langsam innerhalb von fünf Jahren steigerten, zeigte sich ihre Grausamkeit in Wien ganz unmittelbar, so daß die österreichischen Juden sofort wußten, daß ihnen keine andere Wahl als die frühest mögliche Flucht bleiben würde. Aber wohin? Die Demokratien der Welt, einschließlich Großbritannien und die USA, hielten ihre Tore fest verschlossen. Das zweite, weitaus schrecklichere Ereignis war die sogenannte „Kristallnacht‘‘ vom 9. auf den 10.-November 1938, als sich der nazistische Haß auf die deutschen Juden in einer Nacht entlud und ihnen schlagartig deutlich machte, daß es nicht möglich sein würde, sich mit der neuen NS-Ordnung zu arrangieren oder den wahnsinnigen „Führer“ zu überleben. Aber auch hier war die große Frage, wohin man in einer kleiner gewordenen Welt noch gehen könne. Die allgemeine Stimmung ist in dem folgenden Dialog zwischen zwei österreichischen Juden enthalten, der in jener Zeit in Wien geführt wurde: Nach Shanghai? Man muß doch nur drei Monate warten, bis man ein Visum für die Vereinigten Staaten bekommt. Warum dann ausgerechnet der Orient? — Ich hätte mir letzte Woche fast das Leben genommen. Nur die Nachricht, relativ leicht nach Shanghai kommen zu können, hielt mich davon ab. Während also die Demokratien ihre Tore schlossen, blickte man ungläubig auf den Horizont, wo, mehr als 8.000 Meilen weit weg, eine große Metropole die deutschen und österreichischen Juden geradezu zu sich einlud, ohne irgendwelche Papiere von ihnen zu verlangen. Alles, was man brauchte, war eine Fahrkarte für die Schiffsreise, üblicherweise auf einem italienischen Luxus-Liner: Fuhr man dann mit einem deutschen Zug bis nach Italien und bestieg dort das Schiff, so ging man im Hafen von Shanghai von Bord, der von Japan kontrolliert wurde — der dritten Achsenmacht. Die meisten Menschen wissen nicht, daß Hitlers Definition von „judenrein“ in den Jahren 1938/39 und bis Juni 1941 vor allem hieß, die Juden loszuwerden, indem man ihnen erlaubte, Deutschland zu verlassen, sofern sie ein Visum für irgendein Land oder ein Ticket nach Shanghai besaßen. Somit kamen die ersten österreichischen Juden bereits im August 1938 nach Shanghai. Die meisten deutschen Juden jedoch entdeckten den sicheren Hafen erst nach der „Kristallnacht“. Erst nach diesem Ereignis entließ Schiff für Schiff menschliche Fracht auf den Bund, die Hafenstraße von Shanghai, in die Freiheit. Weniger als einen Monat nach der „Kristallnacht“, als erst tausend Flüchtlinge den ostasiatischen Hafen erreicht hatten, passierte etwas Unglaubliches: Am 6. Dezember 1938 beschloß Japan auf einer Gipfelkonferenz in Tokio eine pro-jüdische Politik. Aufgrund dieser Entscheidung Konnten im folgenden halben Jahr weitere 14.-15.000 Flüchtlinge Zuflucht im japanischen Sektor Shanghais finden. Die britischen und französischen Behörden waren nicht bereit, Flüchtlinge in ihren Sektoren aufzunehmen, es sei denn, man besaß 400 US Dollar — zu dieser Zeit ein Vermögen. Die Japaner zeigten sich weitaus großzügiger: Im Herbst 1941 wurde für etwa 1.200 polnische Flüchtlinge Platz geschaffen, die in Kobe, Japan, gestrandet waren, weil Kein anderes Land bereit war, sie aufzunehmen. Zu dieser Zeit bildete der internationale Sektor von Shanghai eine bunte Mischung aus Chinesen, Japanern und Europäern aus verschiedenen Nationen. Die Neuangekommen trafen hier nicht nur auf eine, sondern zwei ältere jüdische Gemeinden. Die erste war eine kleine Gemeinschaft von etwa 500 bis 600 Juden aus Bagdad, Ägypten und anderen sephardischen Gemeinden. Sie waren zumeist im 19. Jahrhundert mit der Öffnung der ostasiatischen Häfen durch die Briten gekommen. Diese Juden betrieben in Shanghai erfolgreich Geschäfte: zuerst mit Opium, später mit Tee und Immobilien. Die Namen Sasson, Hardoon Die meisten Flüchtlinge siedelten sich in Hongkew an, einem 1937 von den Japanern zerstörter Stadtteil. Schnell errichteten die Flüchtlinge dort Wohnungen und Geschäfte. Foto: Heinz Gert Friedrichs, Sammlung Paul Rosdy 27