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Heime zu mieten. Allerdings mußten sie, um ihre tägliche Lebensmittelzuweisung zu erhalten, in die öffentlichen Küchen der Heime kommen. Der Durchschnitt der verbleibenden 9.000 Juden kann wiederum in drei Gruppen aufgeteilt werden: Zum einen jene, die von Geld oder Waren lebten, die ihnen Freunde und Verwandte aus den USA oder von anderswo zuschickten. Diese Waren kamen aus zweiter Hand und waren zum Weiterverkauf bestimmt. Die zweite Gruppe bildete eine Art Mittelklasse mit einem Einkommen zwischen 200 und 500 Shanghai Dollar im Monat. Schließlich gab es noch die recht wohlhabende Gruppe jener, die erfolgreiche Geschäfte führten und neue Produkte für den Shanghaier Markt entwickelt hatten. Einige von ihnen fanden als gut bezahlte Spezialisten eine Nische. Diese Flüchtlinge schufen ein „Little Vienna“ im Hongkewer Teil Shanghais. Sie brachten Waren und Dienstleistungen nach Shanghai, die dort zuvor unbekannt waren. Vor allem belebten sie die Architektur dieser Stadt neu, indem sie die heruntergekommenen Häuser in deutsche und wienerische Wohnungen und Geschäfte im Bauhausstil umwandelten. Sie führten Nahrungsmittel und Speisen ein, die in Shanghai fremd waren oder aber seit Kriegsbeginn nicht mehr aus Europa bezogen werden konnten. Es gab zum Beispiel eine Anzahl Kaffeehäuser, die ihrer internationalen Kundschaft und den wenigen erfolgreichen Flüchtlingen Wiener Wurstwaren und Gebäck anboten. Ironischerweise waren die Bäcker selbst nur selten in der Lage, ihren Familien diese Luxusgenüsse zu bieten. Andere boten Dienstleistungen speziell für ihre Gemeinschaft an. So betrieb einer ein kleines und billiges aber gutes de 1 0 Ein Querschnitt aus dem Schaffen der in Shaughai lebendes Autoren Wolfgang Fischer, Ladistaus Frank, Fritz Fridelacnder, Ossictewin. Kurt Lewin, Mark Siegelberg. “A. J. Storfer, tans Schubert, Hanns Wisner, EINLEITENDE WORTE: MARK SIEGELBERG Karten zu $2.50, $2ERHAELTLICH IN DER: x = Geschuftste ee SHANGHAI JEWISH CHRONICLE, 122 Hamiltog shows, Tel 18587, : a) 150, Radioprogramm. Wieder andere bauten eine gutgehende chemische Industrie auf, die vor allem nach Ausbruch des Krieges für Importe aus Deutschland wichtig wurde. Schließlich boten einige ihre hochprofessionellen Dienste und Kenntnisse an, die sonst in Shanghai nicht zu bekommen waren, wie zum Beispiel Schneiderhandwerk, Unterhaltungsmusik und, wie bereits erwähnt, Architekturkenntnisse. In den beiden erstgenannten Bereichen bestand eine unmittelbar sichtbare Wirkung, während die Emigranten in letzterem einen langfristigen Einfluß ausübten. Gute europäische Schneider und Architekten wurden von bereits existierenden Firmen aufgenommen, und einer kleinen Gruppe Handwerker gelang es sich unabhängig zu machen. Die Musiker fanden auf unterschiedlichen Niveaus eine Beschäftigung: in Bars, Tanzlokalen und Kaffeehäusern. Einige herausragende Künstler wurden in die Symphonieorchester aufgenommen. Dabei darf man jedoch nicht vergessen, daß sich selbst für die sehr gut ausgebildeten Flüchtlinge oft genug keine Möglichkeit bot, ihre Kenntnisse und Fähigkeiten entsprechend einzusetzen. Das ideologisch-religiöse Spektrum Innerhalb der deutschen Flüchtlinge war das gesamte politische Spektrum der Zeit vor Hitler präsent: Es reichte von den Kommunisten und Sozialdemokraten am linken Rand bis hin zu einer kleinen Gruppe von Konservativen am rechten Rand. Zwei Kommunisten, Alfred Dreifuß und Hans König, arbeiteten für die russische Nachrichtenagentur TASS. Auch in religiöser Hinsicht bildeten diese Flüchtlinge eine typische Gesellschaft deutscher Juden. Etwa zehn Prozent von ihnen waren orthodoxe Juden, während der reformierte Pol auf der anderen Seite zum großen Teil weltlich orientiert war. Die große Mehrheit gehörte einer liberalen oder, amerikanisch gesprochen, gemäßigt konservativen Richtung an. Es gab auch eine Gruppe (dreizehn Prozent) „nicht-arischer‘ Christen, von denen einige zum Katholizismus übergetreten waren, einer der protestantischen Kirchen angehörten oder aber Nachkommen von Konvertierten waren. Die polnischen Juden blieben unter sich, auch in dieser Gemeinschaft war das gesamte religiöse und politische Spektrum, das sich in drei ungleiche Gruppen aufteilen läßt, präsent. Die größte war die Yeshiva Gruppe, die aus 250 Schülern der Mirrer Yeshiva bestand und die einzige intakte talmudische Schule war, die vor dem Holocaust gerettet werden konnte. Zusammen mit den Resten anderer Yeshivot, einer Anzahl Rabbis und ihren Familien machten sie etwa die Hälfte der polnischen Flüchtlingsgruppe aus. Ein Gegengewicht bildeten kleinere Gruppen von Zionisten, Bundisten, Intellektuellen, Künstlern, Schauspielern und Schriftstellern, denen es gelungen war, das sowjetisch besetzte Litauen mit Hilfe wohlwollender holländischer und japanischer Konsuln zu verlassen. II. Die Shanghaier Flüchtlingsgemeinschaft ist ein gutes Beispiel für die weltweite jüdische Solidarität, die sich in Hilfeleistungen ausdrückte. Von der Ankunft an bis zu dem Moment zehn Jahre später, als die letzten Flüchtlinge Shanghai verließen, wurde eine enorme Summe Geld für sie gesammelt. Bei aller Kritik an der bürokratischen Handhabung der Hilfeleistung gibt es wohl keinen Zweifel daran, daß ohne diese Unterstützung das Wunder von Shanghai ein Desaster geworden wäre. 29