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Unterstützung finanzieller und anderer Art kam hauptsächlich aus Übersee, insbesondere aus den USA. Hilfe kam während des ersten Jahres auch aus England und sogar aus Ägypten. Den Löwenanteil der Flüchtlingshilfe aber bestritt das „Joint Distribution Commitee“, kurz „Joint“ genannt, das fünf Millionen Dollar für die Shanghaier Flüchtlinge aufbrachte. Dies geschah zu einer Zeit, als der Mindestlohn auf 65 Cents pro Stunde angestiegen war und dreißig oder vierzig Dollar in der Woche als anständiger Lohn galten. Daneben war HIAS-HICEM eine weitere Hilfsorganisation, die sich auf Immigrationsprobleme spezialisiert hatte. Zwei kleinere Organisationen brachten etwas geringere Summen für Teile der polnischen Flüchtlinge auf. Da war zum einen das „Jewish Labor Commitee“, das die New Yorker Gewerkschaften vertrat und vom „Jewish Socialist Bund“ geführt wurde und zum anderen das „Vaad Hatzalah‘“, das orthodoxe Komitee zur Rettung von Rabbinern. Wegen der großen ideologischen Differenzen arbeiteten sie nur sehr selten zusammen. Neben den großen internationalen Hilfsorganisationen gab es auf lokaler Ebene kleinere Organisationen, die finanzielle Unterstützung boten, das aus Übersee gesandte Geld unter den Flüchtlingen verteilten und viele andere Dienste anboten. Unter anderem bauten sie die Heime auf, gaben Kurse und gewährten Kredite an in Not geratene Geschäftsleute. Nachdem die erste lokale Hilfsorganisation, das JC, sich gegründet hatte, entstand bald auch die CFA. Beide wurden von den Sephardim und vor allem vom „Joint“ unterstützt. In den ersten Jahren hielt sich die russische jüdische Gemeinschaft gegenüber den wohlhabenderen und prominenteren Sephardim zurück. 1941 allerdings begannen sich die russischen Juden für die erst kürzlich angekommenen polnischen Juden zu engagieren, denen sie sich näher fühlten als den deutschen Juden. Dies war die einfache Folge eines lang bestehenden wechselseitigen Mißtrauens und des kulturellen Schismas zwischen deutschen und osteuropäischen Juden. Nach Pearl Harbor beteiligte sich die Ashkenasi Gemeinschaft stärker an der Hilfe für die deutschen Flüchtlinge. Der „Joint“ garantierte ihnen eine Rückzahlung nach dem Krieg. Erziehung und Bildung Eine der schönsten Erfahrungen der Flüchtlinge in Shanghai war wohl die Erziehung und Bildung der Jugend, die durch die Hilfsorganisationen und die Flüchtlinge selbst geleistet wurde. Drei Grundschulen wurden gegründet. Die erste war die von Sephardim geführte „Shanghai Jewish School“, eine weitere Schule, die von sehr vielen Flüchtlingen besucht wurde, war die „Shanghai Jewish Youth Association“, die als „Kadoori-School“ (nach Horace Kadoorie, ihrem Initiator) bekannt wurde. Die dritte Schule war nach ihrem Gründer Ismar Freysinger benannt und war kleiner und religiöser orientiert. Obschon sicher nicht alle Lehrer exzellent waren, vermittelten die Schulen ein hohes Bildungsniveau, das die Schüler für ihren weiteren Bildungsweg nach dem Krieg vorbereitete. Neben einigen Kindergärten, die entweder privat oder von einer der Hilfsorganisationen geführt wurden, gab es zusätzlich Kurse für Schüler im Alter von 14 bis 21 Jahren und sogar eine Handelsschule, die von ORT, einer global agierenden jüdischen Organisation zur Ausbildung der Jugend, geleitet wurde. Zahlreiche Englischkurse für jung und alt, eine Tanzschule und die Gregg Business School waren weitere Bildungsangebote. Letz30 tere wurde von Professor William Deman geleitet, der noch andere Erziehungs- und Freizeitprogramme für Jugendliche förderte. Das Asia Seminar, geleitet von dem gelehrten Willy Tonn, war eine kleine Institution, die sich auf asiatische Kultur und Sprache spezialisiert hatte. Die Leihbiicherei, in der man gegen ein geringes Entgelt Mitglied werden konnte, wurde zu einem Mekka fiir die Jugend. Ein kleiner mobiler Buchladen erreichte die Nachbarschaften und ließ sich schließlich in einem der Heime nieder. Neben den üblichen Erziehungsanstalten gab es noch Jugendgruppen wie die Pfadfinder für Mädchen und Jungen und verschiedene zionistische Organisationen wie „Betar“ und „Noar Zioni“. Religiöses Leben Das religiöse Leben innerhalb der Flüchtlingsgemeinschaft war sehr vielfältig, wobei die Jüdische Gemeinde zur größten und dauerhaftesten religiösen Einrichtung wurde. Als Einheitsgemeinde bzw. Communal Association versammelte sie alle Fraktionen von den Reformierten bis zu den Orthodoxen. Im Unterschied zu den amerikanischen Gemeinden organisierte diese Kehillah in europäischer Tradition das gesamte Spektrum der Gemeindedienste und des religiösen Lebens, wie Erziehung, eine Frauengruppe und einen Krankenbesuchsdienst, einen Friedhof und ein Beerdigungsinstitut, koschere Schlachtung sowie ein sehr engagiertes und einflußreiches Schiedsgericht, das viele Streitigkeiten unter den Flüchtlingen schlichtete. Die Gemeinde gab auch eine Wochenzeitung heraus, die mit Erlaubnis der Japaner auch während der Zeit des Ghettos erscheinen konnte. Die Jüdische Gemeinde wurde von den Behörden als Vertretung aller Flüchtlinge anerkannt. Kultur Bei aller Heterogenität und Gespaltenheit der Flüchtlingsgemeinschaft, teilten die Emigranten ein gemeinsames Interesse an einer reichen Kultur, kamen doch viele von ihnen aus großen Städten, wo ihnen ein vielfältiges kulturelles Leben selbstverständlich geworden war. Viele Flüchtlinge gehörten zur künstlerischen und intellektuellen Elite ihres Landes und gedachten, ihr kultiviertes Leben in Shanghai fortzusetzen. Auf den ersten Blick entsprachen die Kulturangebote in Shanghai denen zu Friedenszeiten: Es gab zeitweise drei Tageszeitungen, eine Reihe von Organisationen, Schulen, Büchereien, Konzerte, Ausstellungen, Radioprogramme und Theater, die bis zu 60 Stücke spielten, von denen einige von den Flüchtlingen selbst geschrieben worden waren. Doch diese lebendige Kultur konnte kaum das armselige und bedrängte Leben der Gemeinschaft überdecken. Die meisten waren unterernährt, lebten in denkbar schlechten Behausungen und waren von der Fürsorge abhängig. Zunehmende Trostlosigkeit und ungemindertes Elend traten besonders nach Pearl Harbor an die Stelle der anfänglichen Hoffnung, Shanghai bald wieder verlassen zu können. Besonders die musikalischen Kenntnisse haben einen bleibenden Einfluß bis in die heutige Zeit ausgeübt: Die hochqualifizierten jüdischen Musiker fanden nicht nur Zugang zu Akademien, sondern unterrichteten auch chinesische Schüler in klassischer Musik, die später zu den Lehrern der jetzigen Generation wurden.