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Frau nahm es sehr ernst, sie mußte sich gut vorbereiten, denn die Schüler fragten sehr genau nach der Grammatik. Wehe, wenn meine Frau etwas nicht richtig erklären konnte! Nach einem Jahr konnten sich die Schüler bereits mit meiner Frau einigermaßen verständigen. Das waren schöne Erlebnisse. Dann kamen die Kriegsjahre, und auch wir blieben davon nicht verschont. Es gab nichts zu essen. Auf Marken bekamen wir sehr wenig, nur Reis — die Chinesen und Japaner dasselbe. Nur die Deutschen bekamen alles. Viele alte Menschen starben an TBC. Da meine Frau und ich noch jung waren, gab es keine Erleichterungen. Viele Stunden entfernt von Kakagaschi gab es eine Japanerin, die Chinakohl pflanzte. Wir gingen stundenlang, um etwas Kohl zu kaufen. Von den Chinesen kauften wir Öl. Es war ganz dunkel und roch nicht gut. Zu dieser Zeit zogen wir nach Dairen. Geld hatten wir genug, aber es gab nichts zu Essen. Politisch war es auch sehr heikel, aber erst nach dem Krieg erkannten wir die Gefahr. Die großen Freunde der Deutschen waren doch die Japaner, die hätten uns genauso töten können, wie sie es zu dieser Zeit mit 3.000 Chinesen in Harbin gemacht haben, um Bakterienwaffen zu testen. Shanghai Unser Camp war in einem Viertel der Armen. Während des Krieges war es ein Ghetto, da durfte niemand hinaus. Mit den vermögenden Chinesen kamen wir nie in Berührung, das war eine andere Welt. In Shanghai konnte man überall hingehen. Einmal gingen meine Frau und ich in ein Nobelcafe, das hieß „Zum 7. Himmel“. Das war so wie bei uns zu Hause im Kaffeehaus. Meine Frau lernte schnell Sprachen, sie konnte Russisch und Chinesisch. Ich aber hatte Heimweh nach dem Wienerwald, nach den Bergen und den Seen, nach der Natur. Ich hatte genug von Staub und Wüste, so etwas wie die österreichischen Alpen gab es in China eben nicht. Früher, in Wien, machten wir jeden Sonntag Ausflüge. Meine Frau war eine ausdauernde Sportlerin und Wanderin. Und auch die Bäume gingen uns sehr ab. Im Ghetto gab es eine gute Schauspielerin, sie war schon über 50, sie spielte aber wunderbare Liebesszenen. Dann war noch der Komiker Heller aus dem ,,Simpl“ da, der belustigte uns auch sehr. Wir trafen uns auch in der Schule: die Frommen und die weniger Frommen trafen sich dort am Schabbat. Viele Gebete wurden auf Deutsch gesprochen. Wir waren dort alle eng verbunden. Diejenigen, die das Glück hatten nach Amerika zu emigrieren, haben uns geschrieben, wie es ihnen so geht. Diese Briefe wurden vorgelesen und besprochen. Essen bekamen wir gratis. Pakete „ten in one“ schickten sie uns auch, das half uns sehr. Vom „Joint“ erhielten wir ein Taschengeld. Und dort hatte ich viele Konkurrenten. Jeder handelte mit etwas. Das Dreivierteljahr ging es uns eigentlich ganz gut, nur die Ratten hüpften jede Nacht über unsere Betten, aber auch daran gewöhnten wir uns. Es gab keine Not und sogar so etwas wie Freiheit. Eines Tages hieß es, jetzt kommen die Kommunisten, und wir mußten alle weg. Da hatten wir wieder große Angst, aber die Amerikaner und die UNO unterstützten uns sehr. Sie haben uns die Reise gezahlt, wo immer wir hin wollten. Zurück nach Österreich reisten wir mit dem Schiff, zusamnen mit 100 anderen ehemaligen Österreichern. Wir alle wurden in einem Heim in der Wiedner Hauptstraße untergebracht, das einmal ein Krankenhaus war. In einem Zimmer wohnten an die 16 Personen, darunter viele Sudetendeutsche. Mit ihnen haben wir uns im großen und ganzen vertragen. Für alle diese Menschen gab es nur eine Kochstelle mit vier Flammen. Meine Frau bekam in Wien sofort eine Stellung, sie war noch jung und sprach Englisch. Ich aber kam nirgends unter. Wir wohnten weiterhin im Obdachlosenheim — zweieinhalb Jahre. Im Heim bezahlten wir für vier Personen. Wir erwarben einen eignen Ofen um heizen zu können. Der Schwiegervater war in China gestorben, mit uns lebte die schwer herzkranke Mutter meiner Frau und unser dreijähriges Kind. Vor allem die Kleine litt fürchterlich. Sie konnte nicht in Ruhe schlafen, weil im Raum immer gesprochen wurde. Bis 22 Uhr durfte das Licht brennen. Nebenan schrieb einer mit der Schreibmaschine, das hat fürchterlich geklappert und die Kleine hatte keine Ruhe gehabt. Sie litt geistig so, daß ich mit ihr ins Krankenhaus mußte. Dann kamen noch die viele Wege für die notwendigen Dokumente hinzu: Identitätsausweis, Heimatschein, der neue Paß. Das beschäftigte mich ganz schön. Unsere Wohnung war 1938 „arisiert“ worden. Bei Gericht sprach sie uns nicht wieder zu. Der Richter entschied wie so oft: Man kann nicht ein Unrecht mit einem anderen Unrecht wieder gut machen. Ich versuchte unermüdlich eine Wohnung zu finden — aber vergeblich. Es hieß immer: da sind welche, die haben es noch schlechter. Weil wir dann schon so viele Jahre obdachlos waren, wurde uns von der Gemeinde Wien eine Wohnung in der Per Albin Hanson-Siedlung versprochen. Über die Zuteilung entschied ein Punktesystem, und ein Leben im Obdachlosenheim bedeutete die Höchstzahl. Otto Reichmann ist Goldschmied und lebt heute im Moses Maimonides-Zentrum in Wien. Auf Anregung der Psychotherapeutin Heide Behn hat er seine Lebensgeschichte zu Papier gebracht, aus diesen Aufzeichnungen wurden einige Passagen von Marcus G. Patka zusammengestellt und redigiert. 37