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„Na, die werden wir auch nicht mehr wiedersehen“, meinte die Berlinerin Hertha Shriner, als Verwandte 1933 von Berlin nach Shanghai aufbrachen.' An eine ähnliche Episode erinnert sich auch Evelyn Pike-Rubin: „As I walked in the street with my parents, people would stop to tell us that the Hettstein, the Pinkuses, the Rosens, and others were leaving for Shanghai. Others would say, ‚Shanghai, Sie sind ja verrückt. Sie können sich gleich ihren Sarg mitnehmen!’“” Obwohl die mythenumwobene Hafenstadt auf der Liste der erwünschten Exilländer ganz zuunterst stand, wurde sie für rund 20.000 größtenteils jüdische Flüchtlinge aus Europa zur letzten Zuflucht, zum Wartesaal für die erhoffte Weiterreise. Ein auffallendes Charakteristikum des Exils in Shanghai ist die unfreiwillig erfolgte Konfrontation mit einer von europäischen Flüchtlingen als sehr fremd empfundenen Kultur, mit Menschen, deren Sprache, Lebensweisen und Gewohnheiten auf die meisten befremdend wirkten. Anhand von großteils unveröffentlichten Autobiographien, Erzählungen, Interviews und Berichten in den Jüdischen Nachrichten haben wir versucht, über „Little Vienna“ oder „Little Berlin“ hinaus- und den Begegnungen mit „dem Fremden“ nachzugehen. Wie wurde die kolonial geprägte chinesische Stadt von deutschen und österreichischen Flüchtlingen wahrgenommen, und wie gestalteten sich die Beziehungen mit der chinesischen Bevölkerung? Da es sich bei den von uns bearbeiteten Quellen um subjektive Darstellungen von Exilerfahrungen handelt, sollen keine Verallgemeinerungen vorgenommen werden, doch ermöglichen gerade individuelle Lebensgeschichten neue Sichtweisen. Ankunft in einer fremden Welt Kaum jemand in Europa konnte sich damals konkrete Vorstellungen von Shanghai machen, so manche mußten sich ihr zukünftiges Exilland erst auf der Landkarte suchen.” Herta Shriners Familie rüstete sich beispielsweise mit Tropenhelmen aus, die in Shanghai allerdings keinerlei Verwendung fanden.‘ Als sich die Familie Eisfelder beim Jüdischen Hilfsverein in Berlin über ihr zukünftiges Exilland informieren wollte, erhielt sie die lapidare Anwort: „Im Winter ist es kalt und im Sommer heiß.“ Sie erwarteten sich Häuser mit geschwungenen Dächern, Bambus und Lehmhütten und waren sehr erstaunt, als vor ihnen eine ,,Miniaturversion von Manhatten“ mit Wolkenkratzern, höher als sie sie jemals in Europa gesehen hatten, auftauchte.’ Doch der erste Eindruck von der unverwechselbaren Skyline, die Shanghai den Charakter einer internationalen Metropole verlieh, sollte sich für viele als trügerisch erweisen.‘ Häufig in letzter Minute der nationalsozialistischen Verfolgung entkommen, waren die Flüchtlinge weder auf das ungewohnte Klima mit feuchtheißen Sommern und kalten Wintern noch auf die ihnen völlig fremde Kultur und Gesellschaft vorbereitet. In Shanghai eröffneten sich ihnen auch schnell die Schattenseiten des Kolonialismus: der augenscheinliche Gegensatz zwischen dem Luxus der Europäer sowie einer schmalen chinesischen Oberschicht und der 40 unbeschreiblichen Armut der chinesischen Bevölkerung mit Spielhöllen, Bordellen, organisiertem Verbrechen, Korruption und Opiumhandel als Begleiterscheinung. Es war auch eine bittere Erkenntnis, daß zwischen der Welt der reichen Europäer und ihrem Emigrantendasein eine tiefe Kluft bestand; die zumeist völlig verarmten „Hitlerflüchtlinge“ galten in den Augen der wohlhabenden Europäer als Gefahr für das Image des „Weißen Mannes“.’ Die erste Konfrontation der Stadt wurde als Kulturschock erfahren, als Schritt in eine „fremdartige und grausame Welt“, voll von Lärm und Gedränge, das Angst einflößte.° Als Verfolgte des Nationalsozialismus fühlten sie sich von der Verachtung und dem Rassismus, den die eingesessenen Europäer der chinesischen Bevölkerung entgegenbrachten, abgestoßen.’ Der Kontrast zwischen dem auffallenden Reichtum der Europäer und der ungeheuren Armut der meisten Chinesen, mit denen die verarmten Emigranten im vom Krieg zerstörten Hongkew auf engstem Raum zusammenwohnen mußten, war für viele schwer zu ertragen.'° Da mit den europäischen Flüchtlingen auch über 150.000 chinesische Flüchtlinge in die Stadt strömten, waren die deutschen und österreichischen Flüchtlinge mit einem für sie bisher unbekannten Ausmaß an Armut konfrontiert. Genia Nobel hatte noch Jahrzehnte später die Bilder von alten Männern und kleinen Kindern im Kopf, die, „entkräftet vom Hunger, gezeichnet von Krankheit, auf den Straßen starben“.'' Häufig wurde erwähnt, daß Säuglinge, zumeist Mädchen, lediglich in Papier gewickelt und manchmal noch wimmernd, vor die Tür gelegt wurden, bis sie ein Chinese mit einem Karren unsanft abholte.'” Emigranten empfanden mit den Chinesen zumeist großes Mitleid, doch gestalteten sich die Beziehungen aufgrund der schwierigen Lebensumstände auch sehr ambivalent. Der aus Berlin stammende Arzt Theodor Friedrichs beklagte beispielsweise, daß die chinesischen Flüchtlinge das Eigentum der anderen nur gering achten würden und man es den Japanern zugute halten müsse, daß sie „gar zu große Übergriffe dieser Elemente zu verhindern wußten“." Seine Frau Ilse Friedrichs schrieb an ihre in Berlin zurückgebliebenen Eltern: „Von der Armut und der Verkommenheit mancher Individuen kann man sich keine Vorstellung machen. Das ist natürlich sehr deprimierend.“* Auch die unglaublich schwer beladenen Rickshaw-Kulis, die außer der Kleidung, die sie am Leib trugen, nichts besaßen, waren ein „erster erschütternder Anblick in der fremden Welt“. Einerseits wurde es als unmenschlich empfunden, sich von Menschen ziehen zu lassen,’ die geschlagen und getreten wurden, andererseits stieß sie deren Armut und Schmutz ab, und manche befürchteten auch, von Krankheiten angesteckt zu werden.!’ Deutschen und österreichischen Flüchtlingen, die nur fixe Preise kannten, war es zumeist auch unangenehm, daß vor Fahrtantritt der Preis ausgehandelt werden mußte." „Tausende von ihnen sind nichts anders als Zugtiere; sie schleppen und ziehen die allerschwersten Lasten, die wir nicht einem Pferd zumuten würden; sie fahren die Menschen in Rickshaws und werden dafür geschlagen und getreten. Voller Abscheu wendet sich der Europäer von diesen Sklaven ab“, beobachtete Hertha Beuthner.' „Hut ab vor dem Kuli, Hut ab vor dem