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Shanghai unter dem Meeresspiegel liegt. Sie hatte sich auch schnell daran gewöhnt, daß Chinesen ihre Notdurft auch am offenen Feld erledigten: „Und in der Früh hat man überall auf den Feldern die Popscherl von den Chinesen gesehen. Das war einfach so. In diesen Vierteln, wo wir gelebt haben, da hat es genug Freiraum gegeben.‘” Unterschiedlich reagierten die Flüchtlinge auch auf die enorme Verbreitung der Prostitution, die unzähligen Nachtlokale und Bordelle und auf die an vielen Straßenecken positionierten Amahs, die Beschützerinnen und Herrinnen der chinesischen Prostituierten.” „Just as Melbourne has a milk-bar at every street corner, so Shanghai had its borthels everywhere“, beobachtete Horst Eisfelder.”” Während Hertha Beuthner mit Verachtung auf den für sie moralischen und sittlichen „Tiefstand“ dieser Stadt reagierte,’ versuchte die Wienerin Franziska Tausig, sich in das Schicksal einer jungen Chinesin hineinzuversetzen. Durch die engen Wohnverhältnisse konnte sie beobachten, wie diese sich, von ihrer Amah begleitet, täglich verkaufen mußte, um ihrer Familie das Überleben zu sichern.” — ,,We learned that life was cheap, very cheap, and girls were even cheaper“, konstatierte Ernest Heppner.” Begegnungen mit „den Fremden“ Wenngleich sich die meisten europäischen Flüchtlinge „nie weit in diese fremde Stadt hineintrauten und sich weigerten, die Sprache und Gebräuche des Landes zu lernen“, gab es dennoch viele Berührungspunkte mit der chinesischen Bevölkerung: Deutsche und österreichische Flüchtlinge lebten oft mit Chinesen auf engstem Raum zusammen und waren durch die Errichtung des Ghettos gezwungen, ihre Wohnungen mit Chinesen zu tauschen, sie hatten chinesische Vermieter, Arbeitskollegen oder Geschäftspartner, und wer es sich leisten konnte, beschäftigte billige chinesische Arbeitskräfte. Da kaum einer der Emigranten Chinesisch lernte, wurde in Pidgin-English kommuniziert. Kinder und junge Menschen zeigten sich im allgemeinen offener für die Stadt und betrachteten das Exil mitunter sogar als Abenteuer. Auf junge Menschen übte die Stadt auch große: Faszination aus, sie genossen zumindest bis zur Ghettoisierung den internationalen Charakter Shanghais, die vielen Zeitungen und zahlreichen Radiostationen.” Für die Salzburgerin Maria Plattner „war alles fremdartig, aber einfach selbstverständlich“,* junge Menschen sprachen auch davon, daß sie „a lot of fun“ hatten und das Leben trotz der schwierigen Umstände genossen.” Neben dem Alter beeinflußte auch die wirtschaftliche Situation die Wahrnehmung der chinesischen Menschen und ihrer Kultur. Eine Wienerin, die erfolgreich eine Weberei betrieb, zeichnete ein verklärtes Bild vom „chinesischen Wesen“, das sie als ,,sehr duldsames, gutmütiges Volk“, mit bezaubernden Frauen „von einer uns unfaßbaren Grazie“ bezeichnete.” Annemarie Pordes, die in Shanghai erfolgreich einen internationalen Kindergarten leitete, zeigte sich sehr offen gegenüber der chinesischen Kultur und gehörte zu den wenigen Emigranten, die bemüht waren, die chinesische Sprache (sie wählte Mandarin) zu lernen.” „It was a relatively happy time for us“, konstatierte Gertrude Kracauer, die mit ihrem Ehemann beruflich gut Fuß fassen konnte. Sie beschrieb die Chinesen als tolerant gegenüber den Emigranten und es fiel ihr nicht leicht, die Stadt nach neun Jahren zu verlassen: „It was often hard and difficult, but also fascination and eventful. An unforgettable chapter in my life.““° Auch die zeitliche Nahe bzw. Distanz zum Exil konnte die Wahrnehmung beeinflussen. Wird im Riickblick von ehemaligen „Shanghailändern“ betont, daß sich die Chinesen gegenüber den Emigranten anständig verhalten haben und trotz ihres eigenen Schicksal immer freundlich und hilfreich waren,“ so finden wir in früheren Aussagen oft wesentlich negativere Haltungen. Arthur Rothstein, den die multikulturelle Stadt völlig einschüchterte, bezeichnet die Chinesen als „very cruel people“. Hertha Beuthner, die ihre Eindrücke von Shanghai bereits 1948 zu Papier brachte und in Shanghai eine drastische soziale Deklassierung hinnehmen mußte, fühlte sich vom engen Zusammenleben mit der verarmten chinesischen Bevölkerung beeinträchtigt.