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fundamentalen Konsens bürgerlicher Moral gehörte. Als ein zuspitzendes Moment kam noch hinzu, daß es sich durchaus nicht um einen historischen oder zeitlich verfremdeten Sachverhalt handelte, sondern um ein akutes Problem, mit dem sich die Zuschauerinnen und Zuschauer konkret in ihrer aktuellen Lebenslage auseinanderzusetzen hatten. Hier bot die Fabel von Fremde Erde eine Lösungsmöglichkeit an, deren Realisierbarkeit zumindest möglich erscheinen mußte oder als Appell Gültigkeit besaß. Gegen die totale Selbstaufgabe als Tribut an die Gegebenheiten einerseits, andererseits gegen das irreale Beharren auf traditionelle Moralvorstellungen zur ideellen Selbsterhaltung, wurde als der zentrale Wert die eheliche Partnerschaft gestellt, die persönliche Verbundenheit gegen die Widrigkeiten der Welt. Auseinandersetzungen um den Spielplan Um die Inhalte des Theaterprogrammes gab es unter den Shanghai-Emigranten zwei Kontroversen, die zentrale Fragen betrafen, die in den Jahren 1933-45 an das nicht-nationalsozialistische Theater gestellt wurden: zum einen ging es um das Problem einer spezifisch „jüdischen“ Theaterkultur — eine Frage, über die vor allem im ‚Jüdischen Kulturbund“ debattiert wurde —, zum anderen um das politische, d.h. antifaschistische Engagement des Theaters, eine alle Exilbühnen betreffende Diskussion. Auch wenn Die Masken fallen durch die Darstellung nationalsozialistischer Grausamkeit sich nachdrücklich gegen den Nationalsozialismus wandte und durch diese Schilderung auch Aufklärung über die Verbrechen leistete, lag dem Drama keine Faschismusanalyse zu grunde. Der Nationalsozialismus wurde beschrieben, aber nicht seine Ursachen dargestellt; gleichwohl wurde er in einem seiner zentralen ideologischen Elemente — dem Antisemitismus — widerlegt. Der Appell an die zwischenmenschliche Solidarität, die Konfliktbewältigung durch persönliche Verläßlichkeit, dürfte für das Shanghaier Publikum angemessener gewesen sein als die politische Analyse. Zur Uraufführung von Die Masken fallen hatte Günter Lenhardt geschrieben, „unsere Bühne würde ihren ethischen Ansprüchen nicht genügen, wollte sie es bei einer billigen Unterhaltung bewenden lassen“. Solche Stimmen waren indes vereinzelt. Die überwiegende Mehrzahl der Shanghaier Aufführungen waren trotz oder gerade wegen der problematischen Lebensbedingungen Komödien. Nach dem Pazifik-Krieg Mit der japanischen Kapitulation am 10. August 1945 änderte sich die Situation für die Emigranten schlagartig, aber die Reorganisation eines öffentlichen Lebens dauerte einige Monate. Ab Dezember 1945 finden sich wieder Hinweise auf kulturelle Veranstaltungen, so etwa am 2.12. ein Wiener Abend mit der Conference von Desiderius Grün unter dem Titel „D’ Praterspatzen laden ein“. Für das erste Halbjahr 1946 ist noch ein reichhaltiges Kulturleben der Emigranten dokumentiert, das quantitativ wohl die Ausmaße der Vorkriegszeit in Shanghai erreichte. Das Nachlassen der kulturellen Aktivitäten ab dem Sommer 1946 war vermutlich eine Folge der Hoffnung auf eine baldige Abreise aus Shanghai. Die Emigranten beschäftigte vor allem die Frage ihrer persönlichen Zukunft, während sie die Gegenwart nur noch als Übergangs- und Wartezeit empfanden. Mit dem Wissen um die bevorstehende und von allen ersehn te Auflösung der Emigrantengemeinschaft entfielen die grundsätzlichen Voraussetzungen eines Kulturlebens. Das Shanghaier Exiltheater kann, von lokalen Spezifika wie der ausdrücklichen Anknüpfung an den „Jüdischen Kulturbund“ zwischen 1933 und 1941 abgesehen, mit seinen Diskussionen, seiner eigenen Dramatik, seinen kaum überwindlichen praktischen Schwierigkeiten und seinen gescheiterten und gelungenen Bemühungen als repräsentativ für diese kulturelle Erscheinungsform des Exils gelten. Ein wesentlicher Unterschied zu vielen Theaterinitiativen in anderen Exilländern besteht allerdings im Selbstverständnis: sahen sich die exilierten Theaterkünstlerinnen und -künstler in anderen Ländern oftmals als aktive Antifaschisten, ihre Kulturarbeit als Beitrag zum Kampf gegen den Nationalsozialismus, so fehlte dieser fundamentale Ansatz in Shanghai weitgehend — bei wenigen Ausnahmen in personeller wie inhaltlicher Hinsicht. Daß in den meisten Ländern dennoch mehr „Theater ohne Hitler“ statt „Theater gegen Hitler“ (Hansjörg Schneider) gemacht wurde, verbindet die Shanghaier Kulturaktivitäten wiederum mit denen anderer Exilbühnen. Das Shanghaier Theater war (klein-) bürgerliches Unterhaltungstheater, Stücke mit literarischem Niveau waren auf dem Spielplan eher selten zu finden. Aus den besonderen Gegebenheiten des Exils in Shanghai erklärt sich, daß das Exiltheater keine Auswirkungen auf das Asylland hatte, ebenso daß keine Impulse auf das Theater im Nachkriegsdeutschland oder in Österreich ausstrahlten. Seine entscheidende Bedeutung — und beachtliche Leistung - liegt darin, in einer fremden, weitgehend sogar bedrohlichen Umgebung den Künstlerinnen und Künstlern die Möglichkeit individueller Beharrung und Selbstverwirklichung gegeben zu haben. Zugleich wurde ein nicht zu unterschätzender Beitrag zur sozialen und kulturellen Identität aller Emigranten geleistet. Auch wenn der künstlerische Anspruch oftmals nicht besonders groß war, wenn das Theater der Unterhaltung und Zerstreuung diente, dokumentiert es den Überlebenswillen der Exilanten. Michael Philipp, geb. 1962, Dr. phil., freier Historiker in Berlin, Veröffentlichungen zur Geschichte des Exils und zu Stefan George und seinem Kreis. Literatur zum Thema: Michael Philipp: „Nicht einmal einen Thespiskarren“. Exiltheater in Shanghai 1939 — 1947. Schriftenreihe des P. Walter Jacob Archivs, Bd.4, Hamburg 1996; Hans Schubert/Mark Siegelberg: „Die Masken fallen“. „Fremde Erde“. Zwei Dramen aus der Emigration nach Shanghai 1939-1937. Hg. Michael Philipp/Wilfried Seywald. Schriftenreihe des P. Walter Jacob Archivs, Bd. 5, Hamburg 1996. 51