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Überblickt man den Zeitraum der Tätigkeit dieser Künstlerin über 30 Jahre hinweg, so ist die eigentliche Frage: Welche Rolle hat sie nicht gespielt? Wo ist sie nicht aufgetreten? Es waren die jüdischen Klassiker, mit denen sie sich identifizierte, Scholem Alejchem, Perez, Asch, aber auch Gerhart Hauptmann, Strindberg und Zola. Sie spielte in Paris und London, in Belgien und Rumänien — ein Leben mit europäischen Zuschnitt. Darüber hinaus folgte sie einer Einladung in die Vereinigten Staaten von Amerika. Es war das jiddische Theater, für das sie in besonderer Weise lebte. Aber wieviele Sprachen mußte sie außer „ihrer“ Sprache sonst noch beherrschen? Als Waise aufgewachsen, schon in früher Jugend mit harter Arbeit belastet, mühsam, aber mit eisernem Willen wurde Schulbildung nachgeholt. Dieser Weg nahm ein jähes Ende: 1939. In Warschau erlebte sie die Bombardierung und Besetzung. Sie wurde von ihrem Mann und ihren zwei Söhnen, Studenten in Warschau, getrennt und flüchtete über die damalige Demarkationslinie zwischen Deutschland und Rußland nach Bialistok — von dort nach Wilna in Litauen. In Wilna traf sie ihren Mann wieder. Bis zum Anfang des Jahres 1941 blieben sie in Wilna und siedelten dann nach Kowno über, wo Rose Shoshana wieder für kurze Zeit Rollen im jiddischen Theater übernahm. Als sich der deutsch-russische Krieg 1941 abzeichnete, flüchtete sie mit ihrem Mann weiter über Sibirien nach Fernost. Zunächst ging es nach Kobe in Japan. Es ist bezeichnend, daß Rose Shoshana sich noch am Abend der dortigen Ankunft für einen Rezitationsabend — des Schülers von Mendelsohn Salomo Dubnow — zur Verfügung stellte. Die vorläufige Endstation war Shanghai. Von der Weltoffenheit, physisch und geistig, ging es in die Enge. In Shanghai war Kultur, Theater, Musik, Literatur kein Luxus: „Nie ist Kunst mehr Notwendigkeit im tiefsten Sinne des Wortes als in Notzeiten, denn sie wendet geistige Not, wendet die Bedrückung seelischer Vereinsammung und Verstoßenheit, die oft schwerer zu tragen ist, als die Sorge des täglichen Brotes.“'’ Rose Shoshana fand auch hier trotz aller Schwierigkeit wieder einen Weg, jiddisches Theater zu inszenieren. Man behalf sich mit einfachsten Mitteln. Aus dem Gedächtnis schrieb man Stücke der jiddischen Klassiker und andere Werke nach. Außerdem versuchte man sich an eigenen Bühnenarbeiten. Nach einer Aufführung von Mirele Efroß (1946) erkrankten Rose und Lazar Kahan an Flecktyphus, an dem Kahan starb. Die Zeit des jiddischen Theaters, das Rose Schoschana leitete, wird von Ende 1941 bis auf Mitte 1943 angesetzt. Vermutlich spielte man auch noch nach diesem Zeitpunkt. Die Zahl der Emigranten, die für jiddisches Theater in Frage kamen, in erster Linie aus Polen, war erheblich geringer als die Zahl derer, die aus Deutschland und Osterreich kam." Im Zuge der Auflösung der Exilverhältnisse in Shanghai, die erst 1947 anlief, kam Rose Shoshana in die USA. Die Bandbreite der Tätigkeiten, die sie ausgeübt hat, ist im Rahmen eines Lebensüberblicks nur zu streifen. Sie hat nicht nur Theater gespielt; sie veröffentlichte auch Romane, schrieb für Zeitungen und war als Übersetzerin tätig. Der Titel ihres Tagebuchs Jn fajer un flamen steht 1941 in der Charbiner russischen Zeitung Jewreiskaja Schion tiber Notizen vom Kriegsgeschehen in fortlaufender Folge. Diese Notizen wurden gesammelt und erschienen im Jahre 1949 mit einem Vorwort von P. Bimko in Buenos Aires in der Buchserie ,,Dos Pojlische Jidentum‘‘.” Das Tagebuch ‚In fajer un flamen“ Shoshana hat das Tagebuch von der ersten Woche des Kriegs bis zu den letzten Monaten des Jahres 1946, bis zum 22. Oktober, geführt. Am 5. September 1939 hatte sie angefangen, das Tagebuch zu schreiben. An diesem Tag verließ ihr Mann mit einer Gruppe jiddischer Journalisten Warschau. Zwei Tage später waren auch ihre beiden Söhne verschwunden. Dieser erste Teil des Tagebuchs wird ausführlicher dargestellt als die letzten fünf Kapitel, die uns einen Einblick über den Aufenthalt in Japan und das Exil in Shanghai geben." Dieses Exil in Shanghai war eine besondere Episode in der jiidischen Katastrophe im Zweiten Weltkrieg. Im Hinblick auf den Umfang von 399 Seiten kann es hier nur im Auszug wiedergegeben werden. Ankunft von orthodoxen Fliichtlingen, vermutlich aus Polen oder dem Baltikum. Foto: Sammlung David Kranzler 25. Oktober 1941 Angekommen in Shanghai am 23sten. Alle unsere Freunde haben uns am Hafen mit Blumen erwartet. Als wir nicht mehr weit vom Hafen waren, hat man allen Passagieren befohlen, unter Deck zu gehen und nicht herauf zukommen, bis man es uns erlaubt. Unten hat man auch die Fensterchen verdeckt, damit wir nicht hinaussehen können. Erst später haben wir erfahren, daß wir an militärischen Einrichtungen vorbeigefahren sind. Als wir noch draußen auf dem Deck waren, habe ich schon von weitem gesehen, daß alle unsere Freunde auf uns warteten. Schon als wir noch auf dem Schiff waren, sah man einen gewaltigen Kontrast zu den Japanern. Japaner arbeiten schnell und leise, Chinesen langsam und mit großem Lärm. Ihre Schritte hört man nicht, weil sie mit weichen Latschen und Strohsandalen gehen, man hört aber immer ihr Geschrei. Ob sie die kleinste oder die schwerste Last tragen, singen sie immer dabei: „Eho, Eho.“ Jeder will den anderen das Geschäft wegnehmen und gleichzeitig kommen 15 Chinesen ... sie reden in allen Sprachen und jeder schnappt sich ein Stück Gepäck. Ich war einfach erschrocken und die Freunde schrien: „Halte sie im Auge, paß gut auf!“ ... und ein Gepäckträger lief hinter dem anderen her. Mein Gott, was sich da abspielt. Zum Glück hat ein deutscher Flüchtling — ein Spediteur — uns dort herausgebracht, der unsere Sache an sich genommen hatte. Die Freunde haben für uns ein Zimmer auf der Seward-Road in Hongkew vorbereitet. So sind wir nicht in die deutschen „Heime“ gegangen. 53