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26. Oktober Wir haben die HIAS'* besucht - zu Fuß. Mein Gott, was für eine ekelhafte Stadt Shanghai ist ... Jetzt verstehe ich, warum viele mit aller Kraft dafür gekämpft haben, so lange wie möglich in Japan zu bleiben und nicht nach Shanghai fahren zu müssen ... Jetzt verstehe ich die schrecklichen Briefe, die wir von denen erhalten haben, die das Unglück hatten, als erste nach Shanghai geschickt zu werden. Eine schmutzige, ekelhafte Stadt ... Die Seward Road, wo wir wohnen, ist die Hauptstraße von Hongkew. Hongkew ist der ärmste und schmutzigste Stadtteil von Shanghai. Vor vielen Jahren waren in Hongkew die meisten Geschäfte europäisch, fast alles ausländische Unternehmen. Im Krieg zwischen Japan und China sind die Geschäfte durch die starke Bombardierung zerstört worden. Ganz Hongkew stellt ein schreckliches Bild dar: von Bomben zerstörte eingefallene Häuser, Ruinen von Fabriken, verbrannte Geschäfte usw. Dort hat man die Flüchtlinge untergebracht, zwanzigtausend deutsche Flüchtlinge, einige sind mit ihren Pianos und sogar mit ihren Lampen hierher gekommen, einige sind aus den deutschen Konzentrationslagern. Die Mehrheit von ihnen ist im Jahre 1937 gekommen, vor Hitler geflohen. Wir gehen auf der Straße, es ist eklig zuzugucken. Menschen mit Krätze liegen draußen, lausen sich und essen die Läuse auf. Da liegt eine junge Chinesin — mit einem schönen Gesicht, mit Schorf auf dem Kopf, schreit mit aller Kraft: „Tscho Tscho, Tscho Tscho“ (essen, essen). Auf allen Straßen liegen verschiedene Krüppel ... mit abgehackten Händen und Füßen. Man rollt sich auf den Bauch, nackt, den ganzen Körper verschmiert mit schrecklichem Schmutz von der Straße. Aber am zahlreichsten sind die Menschen mit der Krätze und mit Blattern am ganzen Körper. Man weiß nicht, wo das Gesicht sein soll. ... Ich möchte fliehen. Aber wohin? Auf der anderen Seite der Straße ist es genauso oder noch schlimmer ... in Hongkew oder in der Stadt. Dann gibt es da den Bund, die eleganteste Gegend von Shanghai. Dort befinden sich alle Banken, alle großen Büros, alle Reisebüros und Regierungsgebäude. Auch da ist es dasselbe Bild. Auf einer Seite der gelbe Fluß Wangpoo mit riesigen Schiffen aus allen Ländern und Nationen. Da flattert die chinesische Fahne, noch höher flattert die japanische und da sieht man die farbige amerikanische und daneben die englische, da seht ihr die halbe Sichel von der russischen Fahne und allerei Namen in riesigen Buchstaben: Argentinien, Kanada, Indien, Port Arthur, Panama, Kuba, Australien, Johannesburg, Nagasaki, Tokio, Jokohama, Manila, Singapur. Honolulu usw. Ich stehe, ich kann meine Augen nicht von so vielen fremden und weiten Ländern abwenden, mein Herz weint. Soviele Länder und für mich ist kein einziger kleiner Ort in Gottes Welt. Ich lese die Aufschrift „Amerika“, mein Herz schlägt schneller. „Conti Verdi“ — sonniges Italien, dort ist meine Tochter Lili. „Palestine“ — Deine Tore werden jetzt von deutschen Bomben angegriffen ... Ich hatte Angst, an dich zu denken. Ich habe doch erst vor kurzem die Bombardierung meines geliebten Warschau mitgemacht. Ich erschauere, wenn ich das Wort „Bombardierung“ höre ... Müde sind wir im HIAS Büro angekommen. Direktor Birmann hat sich sehr über uns gefreut, besonders über Lazar. Er hatte uns sehr herzliche Briefe nach Kobe geschrieben. Er war ein großer Anhänger und Liebhaber von Lazars Artikeln in der argentinischen und amerikanischen Presse. 30. Oktober Vor ein paar Tagen haben wir die deutschen „Heime“ besucht, die dem sogenannten Speelmann-Komitee” gehören. Keiner der polnischen Flüchtlinge hat vom Speelmann-Komitee pro54 fitieren wollen, das die Flüchtlinge wie eine Gesellschaft von Schnorrern betrachtet, obwohl das Komitee vom Joint finanziert wird; jeder Beamte hält sich für einen besseren Herrn, und dagegen ist der unglückliche Flüchtling ein „Garnichts“, ein niedriges Wesen. Die polnischen und litauischen Flüchtlinge, die sich moralisch und kulturell für höher schätzten als.die Beamten, wollten sich nicht so erniedrigen. Sie sind weder zum Schlafen in die „Heime“ noch zum Essen in die Küchen gegangen ... Aber leider waren wir auf die lumpige Hilfe angewiesen, die täglich aus einem klebrigen, leimigen Stück Schwarzbrot besteht, aus ein paar alten Bohnen, die man einige Stunden kochen mußte, und ein paar verfaulten ausgekeimten Kartoffeln, über die sich lange weiße Sprosse zogen — auf diese Proviantschätze, die in großen Mengen viele Monate in verschimmelten, nassen Kellern gelagert wurden. Wer nicht in Shanghai war, weiß nicht, was Schimmel ist. Man zieht sich abends die Schuhe aus, und morgens beim Anziehen kann man sie nicht vom Schimmel befreien. Man legt die Handtasche weg, und morgens ist sie voller Schimmel. Das Speelmann-Komitee wollte günstige Gelegenheiten ausnützen; aus Angst, daß die Preise steigen könnten, hat man Proviant eingekauft. Macht nichts, was soll’s, ein Flüchtling kann auch das essen, er darf nicht wählerisch sein. Wegen dieses Proviants müssen wir viele Stunden lang anstehen. Als wir die „Heime“ besuchten, ist es uns direkt schwarz vor Augen geworden. Wie können die deutschen und österreichischen Flüchtlinge so wohnen und leben, und das schon seit Jahren. Sie sind doch Jahre vor dem Ausbruch des Krieges angekommen. Sie sind doch vor Hitler geflohen. Große schmutzige Säle mit Holzpritschen statt Betten, über der Pritsche noch eine Pritsche, der eine schläft unten, der andere schläft oben. Zwischen den Pritschen ist ein sehr schmaler Durchgang. Ein Mensch paßt kaum durch. Unter den Holzpritschen steht das Gepäck und Koffer mit dem, was man täglich braucht. Nirgends kann man ein Kleidungsstück ablegen; nirgends kann man etwas abstellen. Alles liegt auf der Pritsche. Die größeren Gepäckstücke stehen zum Teil in den Fluren und zum Teil in „Gadojn“. Die armen Bewohner, die Flüchtlinge, ausgezehrt, müde, haben schon ihr mitgebrachtes David L. Bloch: Ein Blumentopf als Herd. Aus: David L. Bloch: Holzschnitte, S. 37