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mit dem man Lampen anzünden und Öfen heizen kann. Nach ein oder zwei Gläschen wurden wir alle sehr vergnügt. Frau Erika ging ganz aus sich heraus, lehnte sich fast an Hansens Schultern und trällerte mit kleiner Stimme und roten Backen die Schlager ihrer Jugend: „Wenn die Elisabeth nicht so hübsche Beine hätt’“, und „Was machst du mit dem Knie, lieber Hans, mit dem Knie, lieber Hans, beim Tanz“. Dann legte Fräulein Rosa los, wie sie’s in der deutschen Schule in Tsingtau gelernt hatte: „Es braust ein Ruf wie Donnerhall..‘“ Mama Tschü fällt begeistert ein. Na, und dann kam gleich das Horst Wessel-Lied. Sie kennen den Text, wie wir ihn zu der Melodie singen? „Die Straße frei den roten Bataillonen, die Straße frei, der K.J.V. marschiert.‘“ Zuerst bemerkten die Damen gar nichts. Wahrscheinlich wußten sie nicht mal, was der K.J.V. ist. Aber dann ging ihnen doch ein Licht auf und sie sahen sich mit lächerlich dummen und verwirrten Gesichtern an. Wir waren aber gerade in Schwung gekommen. Als nächstes kam das Weddinglied: „Links, links, links — der rote Wedding marschiert...‘“ und dann die ‚„‚Roten Flieger‘ und dann die ,,Internationale“. Ich weiß nicht mehr, was wir noch alles sangen, wir armseligen Helden berauscht von Eierlikör, vor diesem jämmerlichen Publikum, das sich ratlos in die Polsterfauteuils drückte. Den ganzen Weg nach Hause brüllten wir, überschrieen unseren Katzenjammer, überbrüllten die Angst vor dem toten, dreckigen Zimmer, das uns erwartete, und vor den toten, dreckigen Jahren, die noch vor uns lagen. „Und höher und höher und höher, wir steigen trotz Haß und Hohn.“ Die Sterne blinzelten kalt und unbeteiligt, die Landstraße zog sich durch Schlamm und Kot, ein Radfahrer mit papierumhülltem Öllicht vor der Brust kam uns entgegen, bremste, sah sich nochmals um und wäre fast vom Rad gefallen. Hunde wurden wach und kläfften uns wütend zu. Breit und schwarz lag die Ebene, das „Arschloch der Welt“, und griff mit stumpfen Fingern nach den Bauernhütten, als wollte sie sie zurückziehen in ihren Schoß. Am nächsten Sonntag beschlossen wir, die englische Mission in der Stadt mit unserem Besuch zu beehren. Der Weg war etwas weiter, aber das Essen war ebenso gut wie in der Villa Tschü. Besonders einen Kaffeekuchen gab es — ein Gedicht! Wir sind Sonntagsstammgäste bei den Missionaren geworden. rm N Ue \ Sy David L. Bloch: „Unbeachtet“. Aus: David Ludwig Bloch: Holzschnitte, S. 150 60 Ja, der Frau Tschü hat Hans noch eine Karte geschrieben. Er danke ihr für die reizende Gastfreundlichkeit. Und überdies sei er Jude. Aber wenn sie erlaube, möchte er sie wieder besuchen. Die Person hat nicht mal geantwortet! Die Füße im Eimer Der Rekrut Ma Feng Shen hat solches Glück gehabt, wie es unter hunderttausend nur einer trifft. Er ist in das neue Lazarett gekommen, das als Musterspital eingerichtet ist, mit Betten und Fiebertabellen, mit großen Dampfkesseln, in denen die verlausten Kleider gekocht werden und mit wahrhaftigen Ärzten, die zwischen den Betten umhergehen und ihre Befehle erteilen. Aber das half dem Rekruten nicht viel. Wenn ein Fuß erfroren ist, wenn das Fleisch abfault und so schwarz wird, daß man die Haut abziehen möchte wie einen Strumpf, und wenn es beim Verbandwechsel stinkt, als hätte man unversehens die Tür zu einer Latrine geöffnet — dann muß der Fuß abgeschnitten werden. Der Winter im oberen Han-Tal ist nicht sehr kalt. Die Temperatur fällt niemals tief unter den O-Punkt, und Schnee gibt es selten. Außerdem ist die einheimische Bevölkerung bekanntlich abgehärtet. Die Kinder tragen das ganze Jahr hindurch offene Hosen, die den halben Unterkörper freilassen; man kann wochenlang reisen, ohne ein geheiztes Zimmer zu finden, und Lederschuhe trägt überhaupt niemand am Land. Deshalb gehören Schuhe auch nicht zur Winteruniform und werden nicht geliefert hier. Man behilft sich, wie man eben kann. Manche tragen Stoffschuhe, manche tragen Strohsandalen, und manche wickeln sich Fetzen um die Zehen, wenn die Füße zu faulen beginnen. Einen erfrorenen Fuß abzunehmen, erfordert keine besonderen Vorbereitungen. Die Nerven sind tot und gefühllos, man braucht keine Äthernarkose und keinen Operationstisch, sondern die Prozedur wird im Bett ausgeführt. Zwei Tupfer mit Jod, ein paar gekochte Instrumente, ein Messer, eine Säge, einige Klemmen — das ist alles. Einer drückt ihm ein Tuch vor die Augen, damit er nicht sieht, was man mit seinen Füßen tut. Einer hält ihm das Bein. Einer reicht mit der Pinzette sterile Gaze. Und einer schneidet. Unter der Binde, die der Pfleger dem Rekruten vor die Augen hält, quellen die Tränen hervor. Der Bursch ist noch sehr jung, 17 oder 18 Jahre alt, und er heult laut und unbeherrscht wie ein Kind. Auf und ab tanzt das Messer in der sicheren Hand des Chirurgen, .ein paar flinke, zielbewußte Bewegungen. Erst wird die Haut durchgeschnitten, dann die Muskulatur, und schließlich die Sehne, die den Fuß am Bein befestigt hat; eine einfache und leichte Arbeit. Dann fällt der Fuß ab. Der Arzt greift ihn mit der Pinzette, um ihn in den Schmutzeimer zu werfen, aber weil der Fuß so groß und glatt ist, rutscht er ab und fällt zurück aufs Bett neben den blutigen Beinstumpf, zu dem er nicht mehr gehört. Dort bleibt er liegen, sinnlos und dumm. Es ist unwiderstehlich komisch. Als ob wir Gliederpuppen wären, die man zusammenschraubt und wieder auseinander nehmen kann. Man hat den Fuß abgeschraubt, vielleicht wird man ihn waschen und reiben und in Alkohol legen, und dann nimmt man ihn und schraubt ihn wieder an? Alle Verwundeten des Krankensaales, die nicht bettlägerig sind, schauen der Amputation zu. Einigen haben sich auf das Nachbarbett gestellt, von wo die Aussicht besonders gut ist. Der abgeschnittene Fuß, der zu seinem Stumpf zurück will, ist