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Rezensionen Autobiographien des Shanghai-Exils Obwohl Shanghai mit seinen rund 20.000 Flüchtlingen eines der größten Zentren der deutschen und österreichischen Emigration war, lagen bis Ende der achtziger Jahre nur wenige autobiographische Berichte über das dortige Exil vor. Mochte es dafür spezielle Gründe geben, die im Besonderen des Ortes lagen — etwa die kaum vermittelbaren Lebensumstände oder daß sich nach Kriegsende in keine Weise an die dortigen Erfahrungen anknüpfen ließ -, so gelten für die Erinnerungen an Shanghai auch die Bedingungen anderer Zufluchtsorte und -länder. Die Ursachen für die späte Publikation von Erlebnisberichten aus dem Exil liegen bei den politischen Umständen wie bei den Emigranten selbst. Bestand auf der einen Seite bis weit in die siebziger Jahre eine gesellschaftliche Ignoranz gegenüber der Emigration, so hatten auf der anderen Seite die Flüchtlinge selbst Gründe genug, ihre Erfahrungen nicht aufzuzeichnen und zu publizieren: der Wunsch nach Verdrängung und Neubeginn oder die Inanspruchnahme durch die Existenzgründung konnte ebenso dazu gehören wie das Gefühl, im Vergleich mit den in die Konzentrationslager Verschleppten „nichts besonderes erlebt zu haben“. Ungeachtet dieser Zusammenhängen wurde doch einige autobiographische Zeugnisse über das Shanghai-Exil veröffentlicht, manche als Kurzbiographie in einer Zeitschrift oder einem Sammelband, wenige in Buchform. Zu diesen kamen in den vergangenen Jahren einige weitere. Zu den frühesten als Buch publizierten Shanghai-Erinnerungen gehört Hugo Burkharts Bericht Tanz mal, Jude!, bereits 1967 erschienen, in dem Burckhart seine ,,Erlebnisse“ — so der Untertitel - in den KZ Dachau und Buchenwald und in Shanghai berichtet. Beinahe zwei Jahrzehnte später legte der Theaterkünstler Alfred Dreifuß seine Autobiographie Ensemblespiel des Lebens vor, eine Gesamtlebensbeschreibung des damals über 80jährigen, die ebenfalls die Stationen Dachau und Buchenwald beschreibt und rund 50 Seiten den acht Jahren in Shanghai widmet. Mit der Rückkehr nach Wien endet der 1987 gedruckte Bericht Shanghai Passage von Franziska Tausig, die bis dahin ausführlichste Erinnerung an das Shanghai-Exil. Eine besondere Rolle nimmt Alfred W. Kneuckers stark autobiographischer, romanhafter Text Zuflucht in Shanghai ein, 1984 aus dem Nachlaß des Wiener Arztes herausgegeben. Diesen Publikationen ist gemeinsam, daß ihre Autoren Shanghai als Erwachsene erreichten — Franziska Tausig ist Jahrgang 1895, Alfred Dreifuß sieben Jahre später geboren. Die Autoren der in jüngerer Vergangenheit in Deutschland' erschienenen Berichte W. Michael Blumenthal, Wolfgang Hadda, Ernest G. Heppner, Jerry Lindenstraus und Hellmut Stern — gehören den Jahrgängen 1920-1929 an und gelangten als Kinder oder Jugendliche nach Shanghai. Diese Perspektive bestimmte die Wahrnehmung des Exils und findet sich teilweise noch deutlich in den Autobiographien wieder. In den Erinnerungen an die Zeit vor der Emigration dominiert das November-Pogrom von 1938, das Lindenstraus in Königsberg, Hadda und Heppner in Breslau, Stern und Blumenthal in Berlin erlebten. „Den Anblick, der mich dort erwartete, habe ich nie vergessen“, schreibt Blumenthal, der mit seinen zwölf Jahren zur zerstörten Synagoge in die Fasanenstraße gegangen war: „Der Anblick war sogar für ein Kind meines Alters unheimlich; ich hatte zum ersten Mal richtig Angst, machte kehrt und rannte nach Hause.“ (439) Das Novemberpogrom hatte auch den Letzten die Notwendigkeit der Emigration deutlich gemacht, an die viele Familien schon vorher gedacht hatten. Hellmut Stern, damals zehnjährig, schreibt: „Natürlich war es nichts Außergewöhnliches, daß man in der Schule über Emigration sprach. Jeder hoffte, irgendwann ausreisen zu können. Als ich im Sommer des Jahres 1938 erklärte, daß wir nach China fahren würden, schallte ein großes Lachen durch den Raum: wir holten einen Atlas, um zu erkunden, wo China liegt, und ich erzählte meinen Mitschülern, was ich über die Mandschurei von meinen Eltern aufgeschnappt hatte. Ich war furchtbar stolz, daß wir weiter fuhren als alle anderen.‘“(34). Die Fahrt nach Shanghai erfolgte in den meisten der geschilderten Fällen mit dem Schiff; nur Hadda gelangte mit seinen Eltern auf dem Landweg nach Shanghai und liefert eine der wenigen Schilderungen dieser Route. Vor ihrer Abfahrt im Mai 1941 — kurz bevor mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion auch diese Route gesperrt war — erlebten die Haddas noch alliierte Bombenangriffe auf Berlin. Die Zugfahrt führte über Warschau und Moskau mit der Transsibirischen Eisenbahn in die Mandschurei und über Dairen nach Shanghai und war voller merkwürdiger Situationen. Die Emigration war für die Kinder und Jugendlichen nicht weniger als für die Erwachsenen ein völliger Bruch mit dem vorangegangenen Leben, aber dieser Schnitt wurde vielfach nicht als tragisch empfunden. Dem zehnjährigen Lindenstraus etwa war die Abreise nach Shanghai 1939 als „Abenteuer willkommen“ (23), als Kind konnte er in der Kadoorie-Schule „ein mehr oder weniger normales Leben führen“ (25), und selbst die Ghetto-Zeit ist ihm im Rückblick nicht primär negativ in Erinnerung: „Wir Jugendliche waren auch in den härtesten Jahren 1944 und 1945 frohen Mutes und immer beschäftigt.“ (32). Blumenthal, der mit seinen Eltern im April 1939 aus Deutschland entkommen konnte, berichtet: „Für mich war es der Anfang eines großen Abenteuers: neue Erfahrungen, ungewohnte, exotische Bilder und Geräusche; keine braunen Uniformen, keine Hakenkreuze mehr. Zwar spürte ich die Angst der Erwachsenen, aber mit meinen dreizehn Jahren hatte ich noch das kindliche Vertrauen darauf, daß meine Eltern schon mit der Situation fertig werden würden. Sie hatten immer einen Weg gefunden, und das würde zweifellos auch diesmal so sein. Mir fehlte das Verständnis dafür, wie schwierig es für sie war.“ (454) Auch Heppner, als 18jähriger in Shanghai angekommen, erlebte die Situation als abenteuerlichen Freiraum: „Es dauerte nicht lange, bis ich mich mit ein paar Jungen meines Alters angefreundet hatte. Wir waren alle neugierig auf unsere neue Umgebung und kämpften mit denselben Problemen. Geld hatten wir so gut wie keines, geschweige denn Arbeit, obwohl wir alle darauf brannten, unseren eigenen Lebensunterhalt zu verdienen. Wir hatten nichts zu tun, außer Schlange zu stehen, wenn es etwas zu essen gab, und daher viel Zeit, um all die faszinierenden und möglicherweise gefährlichen Winkel und Gassen der Stadt zu erforschen. Bald kannten wir Shanghai wie unsere Westentasche.“ (106) Wichtige und in fast allen Autobiographien ausfiihrlich beschriebene Etappen sind die Ankunft in Shanghai, die Zwangstibersiedelung ins Ghetto, die Bombardierung und der Einzug der Amerikaner. Atmosphäre und Details der Lebensumstände werden unterschiedlich geschildert, am wenigsten noch von Blumenthal, der sich in seiner knappen Darstellung auf prägnante Analysen beschränkt. So erklärt er nach einer kurzen Beschreibung Shanghais: „In diesen Hexenkessel geworfen zu werden, bedeutete für so gut wie alle ankommenden Flüchtlinge eine tiefe seelische Erschütterung. Für die Mehrheit jedoch, vollkommen mittellos, wie sie war, war es eine besonders traumatische Erfahrung.“ (459) Die nach Shanghai gelangten Kinder und Jugendlichen hatten oft weder Schulabschluß noch Berufsausbildung. So gingen sie dort noch zur Schule und/oder versuchten sich — nicht anders als viele Erwachsene, die in ihren bis dahin ausgeübten Berufen nicht Fuß fassen konnten — mit improvisierten Tätigkeiten. Hadda arbeitete als Hausierer, Lindenstraus als Hilfsarbeiter in einer Weberei, Heppner als Verkäufer in einem Laden für Spielzeug und Büromaschinen und als „Nachtmanager“ in einer Bäckerei. Die Einkünfte reichten allenfalls aus, um das Nötigste des Lebensunterhaltes zu bestreiten. Einige Jugendliche wurden Mitglied der britischen Pfadfinder. Lindenstraus berichtet darüber: „Wir hatten wöchentliche Treffen und sogar Uniformen. Wir lernten alle möglichen Dinge und bekamen Abzeichen für unsere speziellen Fähigkeiten. Ich avancierte sogar bis zum ‚Assistant Troup Leader’. Wir unternahmen Tagesausflüge und übernachteten im Sommer in Zelten. Es war eine wunderbare Sache, um uns zu beschäftigen, den Alltag zu verschönern und dabei noch etwas zu lernen.“ (31) Auch Heppner wurde ein Boy Scout, dar69