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Rabinovici betrachtet die entmachtete und abhängige Israelitische Kultusgemeinde als privilegierte, an der Gewaltbürokratie beteiligte, aber im Interesse der eigenen Gruppe agierende Zwischenschicht im System des Terrors und der Vernichtung. Er sieht sie nicht als ‚jüdische Führung“. „Sie verfügte über keine eigenständige Macht. Sie wurde nach nationalsozialistischen Vorstellungen umgeordnet, sie unterstand der Kontrolle der Nazis, ihre Vertreter wurden nicht frei gewählt. Die Kultusgemeinde war aber keine nationalsozialistische Institution, kein bloßer Befehlsempfänger der Täter. Die jüdischen Funktionäre setzten sich für die Wiener Juden ein und glaubten der jüdischen Gemeinschaft zu dienen. Sie mußten belogen werden, weil sie eben keine nationalsozialistischen Befehlsempfänger waren, und sie konnten nur allzu leicht belogen werden, weil sie ohnmächtig waren und zu den Opfern gehörten. Die Deportationen setzten in Wien ein, als die Auswanderung noch möglich war. Allmählich erst verwandelte sich der Charakter der jüdischen Kooperation und der jüdischen Administration, deren Verhalten sich bereits im Zuge der Flucht eingespielt hatte. Der fließende Übergang verschaffte dem Verbrechen ein Alibi und verbarg die eigentlichen Absichten der Täter. Die ‚Zentralstelle für jüdische Auswanderung’ wurde zur Deportationsbehörde; die Lebensmittelkartei diente zur Erstellung der Deportationslisten. Das Ausmaß des Verbrechens wurde erst bekannt, als ein Großteil der jüdischen Gemeinde bereits ermordet worden war.“ (S. 425f.) Der nationalsozialistische Terror und die ‚Gleichschaltung’ der österreichischen Gesellschaft haben der heterogenen jüdischen Gemeinschaft nur den Weg der Anpassung offen gelassen. Die Option des Widerstandes konnte die österreichische Judenheit laut Rabinovici nicht wählen. „Wo sich kein [massenwirksamer, möchte ich ergänzen] antinazistischer Widerstand unter der nichtjüdischen Bevölkerung bildete, konnten die europäischen Juden keinen bewaffneten Untergrund organisieren. Jede Rebellion benötigt einen Rückhalt. (...) Ohne Machtzentrum, ohne Territorium, ohne nichtjüdische Unterstützung und ohne logistische Infrastruktur hatte ein Aufstand gegen die Staatsmacht keine Chance. Eine politisch und sozial heterogene, keineswegs autonome, durch die Flucht der Jüngeren überalterte Gemeinschaft wie in Wien konnte sich nicht militant zur Wehr setzen.“ (S. 323) Die Nazis konnten die Deportationen lange als Umsiedlungen in ärmliche Ostgebiete darstellen, die Realität der Vernichtung drang erst spät zu den Funktionären der Kultusgemeinde durch. Ihnen wurden die Deportationslisten vorgelegt; sie konnten einzelne nach ihren Kriterien herausreklamieren, Ersatz wurde dann von der Gestapo nominiert. Die auf diesem Wege Geretteten sollten dann nach Theresienstadt deportiert werden, das im Frühjahr 1942 eröffnet wurde. Über diese Mitarbeit an den Deportationen gab es unter den Mitarbeitern der Kultusgemeinde schwere Auseinandersetzungen, einige von ihnen traten zurück. Die Hoffnung auf eine „humane Deportation“ ließ die verbliebenen Funktionäre weiterarbeiten und sich sogar an den „Aushebungen“ versteckter Juden beteiligen. (S. 260 ff) Viele Menschen, die in den autoritären und terroristischen Zusammenhängen um die Rettung ihrer nationalen Gruppe kämpften, wurden nach 1945 nur als üble Kollaboranten wahrgenommen. Deswegen ist es verdienstvoll, daß Doron Rabinovici die Wege uAd Motivationen vieler Menschen, die sich im Graubereich zwischen Überlebenskampf und Vernichtung bewegten, nachvollzieht. In langen Passagen unternimmt Rabonovici den Versuch, das Verhalten der umstrittensten Person in Wien, Dr. Benjamin Murmelstein, zu verstehen, der vor 1938 Religionslehrer, Rabbiner und Wissenschaftler war, 1938 zu einem der Administratoren der Vertreibung und dann auch der Deportation und nach seiner eigenen Deportation 1943 in Theresienstadt „Judenältester“ wurde. Murmelstein war nach dem Krieg massiven Angriffen und gerichtlichen Anklagen ausgesetzt. Er wurde nie verurteilt, wurde aber den Geruch des Kollaborateurs nie mehr los, der er nach Rabinovici nicht war. Aber dieses Vorurteil ist für das kollektive Gedächtnis nicht das Entscheidende, sondern der Nachvollzug des verantwortlichen Kampfes eines Menschen in einer überwältigenden Zwangslage, den er mit einer realitätsgerechten Strategie, voller Selbstzweifel und Fehler führte. Auch deswegen sollte dieses Buch gelesen werden. Viel von der Zwangslage der Funktionäre hat Doron Rabinovici wohl von Franzi LöwDanneberg erfahren, die von 1938-45 als Fürsorgerin der Kultusgemeinde am Puls des Horrors gearbeitet hat. Sie sorgte für jüdische Kinder, KZler, fiir die Deportierten, die ,,UBoote“ und die ungarischen Juden, die 1945 nach Wien gelangten. Sie versuchte, das Los der Verlorenen zu mildern und Menschen zu retten, wenn sie dazu in der Lage war. An einem Beispiel möchte ich zeigen, in welchem Kraftfeld sie sich dabei bewähren mußte: Als sie einen vierzehnjährigen, halbjüdischen Zögling zu einem Sammellager, also zur Deportation, bringen mußte, versuchte sie dort, dem gefürchteten Alois Brunner den Buben mit dem Hinweis auf seine Kategorie „Mischling ersten Grades“ „auszureden“. Brunner stimmte ein, wenn Franzi Löw für den Jungen einen Taufschein, ausgestellt vor dem Inkrafttreten der sog. Nürnberger Gesetze, beibringen könnte. Sie sauste zur „Hilfsstelle für nichtarische Katholiken“ und bewegte Pater Born zur Fälschung eines Taufscheins. Um Mitternacht dieses Tages konnte Frau Löw den Buben aus dem Sammellager ins Kinderheim zurückbringen, in dem er überleben konnte. Wohl wissend, was sie erwartete, ging sie am nächsten Morgen um sechs Uhr früh in die Kultusgemeinde, wo sie der Amtsdirektor schon mit schweren Vorwürfen erwartete. Lebensrettende Tricks konnten daneben gehen und schwere Vergeltungsmaßnahmen nach sich ziehen. Diese Frau muß neben großem Mut über einen außergewöhnlich entwickelten Realitätssinn verfügt haben. (DÖW, Jüdische Schicksale. Berichte von Verfolgten, Wien 1992, S. 185-197; Bericht Franzi Löw). Auch sie wurde nach der Befreiung angezeigt. Ein überlebender Vater, der seine Frau und seine Tochter in Auschwitz verloren hatte, beschuldigte Franzi Löw, die Ausreise seiner Tochter verschleppt zu haben, und warf ihr Nähe zur Gestapo vor. Um im Graubereich zwischen Überleben und Massenmord überhaupt arbeiten zu können, mußte Franzi Löw von der Gestapo akzeptiert sein. Ohne deren Zustimmung hätte sie die Sammellager nie betreten können. Der extremtraumatisierte Vater suchte eine unmittelbar Schuldige. Franzi Löw zog ihre Konsequenzen, verließ die Kultusgemeinde und arbeitete in der Wiener Körperbehindertenfürsorge weiter. Sie wurde 1966 mit dem Goldenen Verdienstkreuz der Republik Österreich ausgezeichnet, starb aber 1997 ohne eine öffentliche Würdigung ihrer Verdienste von jüdischer Seite erfahren zu haben. (Rabinovici, S. 396 ff.) Ich finde es schön, daß Doron Rabinovici sein Buch ihr und Willy Stern gewidmet hat. Bernhard Kuschey Doron Rabinovici: Instanzen der Ohnmacht. Wien 1938-1945. Der Weg zum Judenrat. Frankfurt/M.: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 2000. 495 S. Faust I und Tante Helene Über Lebensbedingungen und Lebensgefühl von Menschen der Dreißiger- und der Vierzigerjahre authentisch zu berichten, die Schrecken der Nazi-Herrschaft sowie erlebte und überlebte Greuel des Krieges der Nachwelt faßbar zu machen, ist für jeden Schreibenden ein schwieriges Unterfangen. Aus der Sicht eines Kindes erzählt, kaum möglich, mag ein Skeptiker meinen. Was wußte schon ein Kind, das selbst nicht am eigenen Leib betroffen, sich mit Vater, Mutter und Kinderfrau seines Lebens erfreuen durfte? Trotzdem: Wer das Buch von Susanna Germano in die Hand nimmt, wird es so schnell nicht wieder loslassen, und das aus mehreren Gründen: Zunächst das besondere Umfeld des Kindes, eine im ganzen deutschsprachigen Raum berühmte Schauspielerfamilie und deren Freunde. Viele Erinnerungen knüpfen sich an Wien. Bekannte Namen wie Schnitzler tauchen auf, Moissi, Egon Friedell, Ernst Lothar, Ernst Polgar, Otto Preminger, Gründgens und viele andere; jedem Liebhaber des Wiener Theaters sind „die Thimigs”, „der Lingens”, „der Edthofer‘‘ noch heute wie gestern vor Aug und Ohr. Wer immer will, kann zurückverfol77