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gen, was sich in jenem vor dem Zugriff der
Nazis relativ geschützten Bereich an künstle¬
risch und menschlich Wertvollem hat halten
können: ein letztes Stück jenes weltoffenen
Geisteslebens, das die Donaumetropole einmal
berühmt gemacht hat: weitherzig, offen, kri¬
tisch, intellektuell. Man sprach über Gott und
die Welt, Literatur, Ideologien und über die
täglich schlimmer werdende politische
Situation. In Susanne wuchs zugleich mit dem
Widerwillen gegen gesellschaftliche Regeln
der Haß gegen die Nazis, weil ihr die Freun¬
dinnen genommen wurden, die sie so notwen¬
dig brauchte.

Damit wird in das schlechte Gedächtnis der
Wiener manches zurückgerufen. Wer erinnert
sich heute noch an die berühmte „Schwarz¬
waldschule”, fortschrittliches Elite-Gymnasium
in der Innenstadt, eine jüdische Gründung?
Susanna Germano berichtet mit Liebe und
Wehmut davon, von Lehrerinnen und Freun¬
dinnen, die 1938 zur Emigration gezwungen
wurden.

Die Sorgen der Erwachsenen, die Vielfalt der
Gespräche, das intensiv miterlebte Hinein¬
schlüpfen in klassische Rollen, prägen die
Entwicklung des phantasievollen Kindes. Eine
enorme Anregung zu eigener Gedächtnis¬
leistung. Stichwortgeben beim Abhören der
Texte verhilft zu nahezu unerschöpflichem
Lernen durch Diskurs und Identifikation. Die
Eltern sind Vorbild, aber: „Alles Episoden ei¬
nes fremden Ichs”, wird die Heranreifende
später rückblickend sagen und an ihren „zwei
Seelen“ leiden. Kein leichtes Leben für das im
tiefsten Inneren einsame Einzelkind, dessen
Welt aus Rollenbüchern, Faust I, Karl May¬
Phantasien, Verlust von Freunden und Orten
besteht - auch der Aufenthalt in einer Schwei¬
zer Internatsschule ist bloß Zwischenspiel —,
für ein Kind also, das für sich kaum mehr be¬
anspruchen kann als die Zuwendungen einer
oft schmerzlich fernen „Tante Helene“. „Kind
der Rollen“ (1. Teil des Romans), das in der
„Rolle des Kindes“ (2. Teil) agiert.
Realitätsverlust ist die Folge. Die Wirklichkeit
tritt kulissenartig zurück, als Susanne allen
Ernstes versucht, mit einem französischen
Kriegsgefangenen zu Fuß vom Wolfgangsee
nach Südfrankreich zu fliehen, über die Alm,
im Rucksack ein wenig Proviant. Bloß ein
paar Berge liegen ja zwischen ihr und dem
Ziel. Und das im Krieg, nein, im schrecklich¬
sten aller Kriege. Was die unglückliche Kind¬
frau als Widerstand gegen die Nazis tun will,
gerät in tragischer Weise zum Widerstand ge¬
gen sich selbst. Die einflußreichen Eltern ho¬
len sie schließlich aus dem Gefängnis.
Susanna Germano hält auch in diesem erzähl¬
technisch schwierigen Abschnitt noch die
Balance, in immer rascher vorwärtsdrängen¬
den, doch immer gleichmäßig fließenden,
kindlich-umgangssprachlich gefärbten Sätzen
treibt ein starker Erzählwille die Handlung,
manchmal in Sprüngen, voran. Und der Leser
springt mit, atemlos, oder auch nachdenklich
innehaltend, je nachdem, was er in dieser
schonungslos aufgerissenen Lebenswelt ge¬

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sucht oder gefunden hat. Von den drei Ebenen
der Handlung — Zeitzeugnis, Theaterwelt und
Vergegenwärtigung eines allen Widrigkeiten
trotzenden Ego - schiebt sich naturgemäß letz¬
teres in den Vordergrund. Ein Entwicklungs¬
roman, der als solcher am Ende offen bleibt.
Ohne Zweifel ein zusätzlicher Grund für die
Faszination, die von ihm ausgeht. Das Buch
schließt mit einer grellen Beleuchtung des
Kriegsendes, das dem erzählenden Ich wieder
die Möglichkeit gibt, seine Rolle zu spielen.
Die schriftstellerische Leistung ist nicht zu be¬
streiten. Wer nach der Lektüre das im ORF ge¬
sendete Interview mit Susanna Germano
gehört hat, findet den „Roman einer Kindheit“
durch die persönliche Antwort auf viele offe¬
ne Fragen ergänzt: „Die Liebe müßte die
Antwort sein.”
Nach Sprachstudium und philosophischer
Dissertation lebte die Tochter des Schau¬
spielerehepaars Hans Jungbauer und Kitty
Stengel in Amerika, später mit ihrem Mann,
einem Neurologen, in Rom. Unter anderem ar¬
beitete sie für deutschsprachige Verlage und
begann selber zu schreiben. Das Theaterstück
„Der Mandelbaum“ erhielt den S. Fischer¬
Preis für deutsche Bühnenstücke und wurde in
Essen aufgeführt. Das Stück „Männerehre“
und einige Hörspiele folgten. Seit 1975 als
Gymnasiallehrerin wieder in Wien, schreibt
Susanna Germano Kurzgeschichten in engli¬
scher Sprache. „Faust Iund die Tante Helene“
ist ihrem Sohn gewidmet, um die vielen
Rollen, die das Leben seiner Familie be¬
stimmten, in ihm fortbestehen zu lassen.
Rosemarie Schulak

Susanna Germano: Faust I und die Tante He¬
lene. Roman einer Kindheit. Wien: Man¬
delbaum Verlag 1999. 509 S. OS 348,-/DM
47,70/SFr 44,60

Franz Pfemfert: Erinnerungen
und Abrechnungen

Unbekannte Briefe und ein
erschiitterndes Dokument des Exils

„Die Aktion”, Berliner Wochenschrift mit dem
Untertitel „Zeitschrift für freiheitliche Politik
und Literatur”, erscheint zum ersten Mal am
20. Februar 1911. Sie tritt, so die programmati¬
sche Note am Ende dieses ersten Heftes, deren
Urheberschaft später Kurt Hiller für sich in An¬
spruch genommen hat, „für die Idee der Gro¬
ßen Deutschen Linken ein ... will den imposan¬
ten Gedanken einer ‚Organisierung der Intelli¬
genz’ fördern und dem lange verpönten Wort
‚Kulturkampf’... wieder zu seinem alten Glanz
verhelfen ... ‚Die Aktion’ hat den Ehrgeiz, ein
Organ des ehrlichen Radikalismus zu sein.”

Daß dieser Anspruch eingelöst werden konn¬
te, wenigstens für die ersten Jahre, ist das

Verdienst des Herausgebers Franz Pfemfert,
der mit Spürsinn für das Neue und einem un¬
trüglichen Sinn für Qualität zahlreiche Bei¬
träger um sich zu scharen wußte und die
Zeitschrift, die sein Lebenswerk wurde, mit ih¬
rer damals neuartigen Verbindung von Politik,
Literatur und Graphik von Anbeginn an zu ei¬
nem Sammelpunkt der politisch-literarischen
Aufbruchsbewegung des Expressionismus
machte. Pfemfert, dessen Leitartikel, Kom¬
mentare und Glossen ihn als einen scharfsin¬
nigen und hellsichtigen Publizisten ausweisen,
war ein leidenschaftlicher Antimilitarist, dem
es gleichwohl gelang, seine Zeitschrift unan¬
gefochten von der Zensur durch die Kriegs¬
jahre zu bringen: Er verzichtete auf explizit
politische Beiträge und beschränkte sich — vor¬
dergründig — auf Kunst und Literatur; er schuf
jedoch mit der Rubrik „Ich schneide die Zeit
aus”, in der er die „aktuellen Kuplets“ der
kriegsbejahenden Autoren dokumentierte so¬
wie der Spalte „Kleiner Briefkasten”, mit der
er auf fiktive Leserbriefe antwortete, eine
Möglichkeit zu verschlüsselter Auseinander¬
setzung und Kommentierung, die an Karl
Kraus und Kurt Tucholsky erinnert.

Franz Pfemfert, der stets „Reinheit über
Einheit“ stellte und, wie er 1918 schrieb, in
„Kompromißnaturen die schlimmsten Feinde“
sah, trennte sich im Laufe der Jahre von fast al¬
len früheren Bundesgenossen und Mitarbei¬
tern. Nach 1918 verlor „Die Aktion“ rasch ihre
einstige literarische Funktion; die zahlreichen
politischen Beiträge, die sie jetzt veröffent¬
licht, belegen den Weg ihres Herausgebers
vom Anhänger des Spartakusbundes und
glühenden Verehrer Rosa Luxemburgs und
Karl Liebknechts über die linkskommunisti¬
sche KAPD zur syndikalistischen AAUD.
Seiner antiparlamentarischen, anarcho-syndi¬
kalistischen Grundüberzeugung und seinem
Ziel, die „Selbstbewußtseinsentwicklung des
Proletariats“ voranzutreiben, das auf der Er¬
kenntnis basiert, so der zeitweilige Mitstreiter
Otto Rühle 1921 im Zehn-Jahres-Heft der
„Aktion”, „daß die Überwindung der Partei
(und der ihr wesensverwandten Gewerk¬
schaften) die elementare und unerläßlich
Voraussetzung des revolutionären Sieges ist”,
blieb er zeitlebens treu.

Die letzte Ausgabe der „Aktion“ erschien im
August 1932. Franz Pfemfert, der von Thea
Sternheim um 1923 das Photographieren er¬
lernte — damit bestritt er seinen Lebensunterhalt
bis zuletzt - und 1927 seine erste Werkstatt für
Porträtphotographie eröffnete, emigrierte mit
seiner Frau, der Trotzki-Übersetzerin Alexandra
Ramm, nach der Machtergreifung der Nazis
über Karlsbad, Paris, Lissabon, New York nach
Mexiko City. Dort starb er am 26. Mai 1954.
„Nichts”, so Manfred George in seinem
Nachruf „Ein Berliner in Mexiko”, „mußte die¬
sem Berliner Menschen fremder sein als die
heiße, farbige, katholisch-spanisch-indianische
Umwelt”, die ihn dort umgab.

Im Gefolge der Wiederentdeckung des Expres¬
sionismus, die 1960 von Paul Raabes Ausstel¬
lung im Schiller-Nationalmuseum in Marbach