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ihren Ausgang nahm, schlug auch die Stunde Franz Pfemferts von neuem. „Die Aktion‘ liegt seit über zwanzig Jahren vollständig im Reprint vor, einige Auswahlbände sind erschienen und mehrere Dissertationen, die, dem damaligen Zeitgeist entsprechend, vornehmlich Pfemferts verwickelten politisch-ideologischen Weg nachzeichnen. Seine „riesige wissenschaftliche und literarische Bibliothek“ und ein „unschätzbares, in Jahrzehnten gesammeltes Archiv“ wurden, wie seine Schwägerin als Augenzeugin berichtet hat, im März 1933 von den Nazis lastwagenweise verschleppt; beides ist bisher nicht wieder aufgetaucht. Der Band „Meine Erinnerungen und Abrechnungen”, der für 1951 angekündigt wurde, führt zwar noch in einigen Nachschlagewerken ein Schattendasein, ist aber in Wahrheit nie erschienen. Deshalb, und angesichts dieser Vorgeschichte, kommt es einer Sensation gleich, wenn jetzt, unter eben diesem Titel, auf insgesamt 681 Seiten eine Auswahl von Texten und Briefen publiziert wurde, die zum allergrößten Teil bisher unbekannt oder doch unveröffentlicht waren. Die beiden Herausgeber, Lisbeth Exner und Herbert Kapfer, haben von Ellen Otten, der Witwe des mit Franz Pfemfert befreundeten expressionistischen Dichters Karl Otten, dessen Korrespondenz mit Pfemfert aus den Jahren 1949 bis 1953 zu Veröffentlichung erhalten, dazu zweiundzwanzig Erinnerungstexte, in ihrer Mehrzahl bisher ebenfalls unveröffentlicht. Weitere Recherchen ergaben, daß darüber hinaus in einigen europäischen und amerikanischen Archiven eine umfängliche Korrespondenz erhalten geblieben ist, darunter der Briefwechsel zwischen Leo Trotzki, Franz Pfemfert und Alexandra Ramm, der über 560 Briefe umfaßt. In chronologischer Folge abgedruckt werden 220 Briefe und Postkarten von Franz Pfemfert, 25 Briefe, die Alexandra Ramm allein oder zusammen mit ihrem Mann schrieb; außerdem 16 Briefe an Pfemfert (u. a. von Johannes R. Becher, Georg Friedrich Nicolai, Ruth Fischer und Karl Otten; darunter auch ein bedeutender Brief von Emma Goldman zur Charakterisierung Lenins). Die Korrespondenz des Anfangs zeigt den rastlosen Publizisten, der trotz seines Erfolgs immer wieder finanzielle Hilfe benötigte. Besonders aufschlußreich ist der Briefwechsel mit dem Mediziner Georg Friedrich Nicolai, seit 1909 Professor in Berlin und eine Autorität auf dem Gebiet der Herzkrankheiten. Nicolais pazifistisches Engagement, in dessen Folge er 1916 als Militärkrankenwärter eingezogen und mit Kriegsgerichtsprozessen überhäuft wird, entzündete sich an dem unseligen „Aufruf an die Kulturwelt“ vom 3. Oktober 1914, in dem 93 hochberühmte Unterzeichner aus Kultur und Wissenschaft den Einmarsch der deutschen Truppen ins neutrale Belgien rechtfertigten, den Krieg zum Kulturkrieg erklärten und mit der behaupteten Überlegenheit der eigenen Kultur auch gleichzeitig den nationalen Machtanspruch begründeten: „Ohne den deutschen Militarismus wäre die deutsche Kultur vom Erdboden getilgt.“ Als Entgegnung auf diesen Aufruf, dem eine Woche später 3016 deutsche Hochschullehrer mit der gleichermaßen kühnen Behauptung folgten, daß „für die ganze Kultur Europas das Heil an dem Siege Deutschlands hänge”, entwarf Nicolai zusammen mit Albert Einstein und Wilhelm Foerster einen „Aufruf an die Europäer”, der an die Einheit des geistigen Europa appellierte, jedoch keinen einzigen Mitunterzeichner fand. Nicolais Antikriegsbuch „Die Biologie des Krieges“ mit dem Untertitel „Betrachtungen eines deutschen Naturwissenschaftlers”, das sich dem herrschenden Pseudodarwinismus mit seiner Rechtfertigung des Krieges als biologischem Phänomen entgegenstemmte, erschien 1917 in Zürich und wurde ein Welterfolg. Franz Pfemfert gelang es zuvor, einige Abschnitte daraus in der „Aktion“ zu veröffentlichen. Dort druckte er im Mai 1915, als aller Begeisterungsrausch verflogen war, auch noch einmal kommentarlos den „Aufruf der 93°“ ab, worauf einer der Unterzeichner ihm schrieb, er betrachte dies als Beleidigung; denn jetzt habe er „selbstverständlich“ nicht mehr solche Ansichten ... An den unorthodoxen Schweizer Kommunisten Fritz Brupbacher in Zürich ist auch der telegraphische Hilferuf, abgesandt am 16. März 1933 in Karlsbad, der ersten Station des Exils, gerichtet: „wohnung zertruemmert letzte groschen geraubt nur leben mit anja hierher gerettet helft uns telegraphisch adresse: hotel paradies.“ Aus Karlsbad, wo er als Fotograf arbeitet, vertreiben ihn drei Jahre später massive und seine Existenz gefährdende kommunistische Proteste, die Folge eines „Offenen Briefes“ an Heinrich Mann, den Pfemfert zum Protest gegen die Moskauer Prozesse auffordert und dessen Antwort er mit Recht „skandalös“ findet. Pfemferts frühzeitiger publizistischer Kampf gegen die Stalinisierung wie sein syndikalistisches und trotzkistisches Engagement bedrohen seine Existenz auch in den Folgejahren, in Frankreich, aus dem er nur mit Mühen’ entkommt, in den Vereinigten Staaten, wo er nicht bleiben darf, und vor allem in Mexiko, einem Zentrum der deutschen kommunistischen Emigration, wo er ebenso einzelgängerisch wie vereinsamt lebt. Stephen S. Kalmar, ein Flüchtling aus Wien, der die Kriegsjahre in Mexiko verbrachte, beschreibt sie in MdZ Nr. 1/1998, die dem Exil in Mexiko gewidmet ist, mit groBer Eindringlichkeit: ,,Heute wird es sehr unterschätzt, was es in 1939, 40, 41 bedeutete, AntiStalinist zu sein. Heute wird die wirkliche Situation verschleiert, indem man sozialistische, kommunistische, stalinistische, trotzkistische Einstellungen bloß als theoretische Schattierungen linker Leute ansieht. Heute ist es schon fast vergessen, daß wo immer Stalinisten Einfluß hatten, es eine Frage von Leben und Tod war, Anti-Stalinist zu sein. Natürlich in Rußland, aber ebenso in allen Ländern, wo Stalin Einfluß hatte, z.B. Spanien, aber durch seine Agenten auch in Frankreich, (auch in der Schweiz), auch in Mexiko, wo die Gewerkschaften unter stalinistischer Führung standen.” Liest man Pfemferts eindringliche Schilderungen seines armseligen Lebens in Mexiko in den Briefen an Rudolf Rocker, Ruth Fischer und Karl Otten unter diesem Blickwinkel, so wird auch verständlich, warum er „die beiden NeuAntistalinisten‘“ Margarete Buber-Neumann und ihre Schwester Babette Gross — übrigens ohne Erfolg — mit Urheberrechts-Prozessen überzieht, weil sie 1951/52 in Frankfurt die Monatsschrift „Aktion“ herausgaben: Daß sich ausgerechnet vormalige Stalinisten, gegen die er doch von Anfang an gekämpft hatte, seines Lebenswerkes bemächtigten, denn so mußte es ihm erscheinen, konnte nur den wütendsten Protest hervorrufen, zumal er immer wieder von der Hoffnung schreibt, die Zeitschrift erneut herauszugeben und in ihr seine Abrechnung mit der Zeit zu veröffentlichen. Die Realität sah so aus: „Ich habe übrigens nur an Sonntagen einen Tisch zur Verfügung, an dem ich schreiben kann. Wochentags sitzt dort im Dunkeln der Retuscheur.“ „Und dabei”, so am 14. Oktober 1951 an den alten Weggefährten Karl Otten“, habe ich im Bett manchmal solche Hassfontänen im Schädel; ich könnte zehn Hefte der AKTION in die Welt schleudern, die Ihnen und vielleicht nur Ihnen restlose Freude machen würden.” Als Enigma seiner Verzweiflung erscheint der wahrhaft erschütternde Brief an Karl Otten vom 21. Mai 1953, in dem Pfemfert „die grösste Tragödie, die uns seit 1933 traf”, schildert, den Tod der Katze Katju, für den er den behandelnden Tierarzt verantwortlich macht, der deshalb mit Hilfe einer internationalen Briefkampagne als Mörder gebrandmarkt werden soll. Überhaupt kann man über manche Wertungen und Einschätzungen der Herausgeber anderer Meinung sein; das „Beziehungsmuster Abrechnung“ zum Beispiel, von dem Lisbeth Exner Pfemfert beherrscht sieht, ist eher ein zeittypisches als nur in seiner Person liegendes. Die damalige Zeit war eben entschieden polemischer als wir es gewohnt sind, und die Auseinandersetzungen, die Kurt Hiller, Alfred Kerr, Karl Kraus und andere geführt haben, sind in ihrer Schärfe und Schroffheit heute kaum mehr vorstellbar. Doch diese Anmerkungen mindern nicht die Freude an dem mustergültig edierten, ausreichend kommentierten und mit einem Register versehenen Band, der einen Autor, der schon fast in der Schublade, die von der Wissenschaft für ihn gezimmert wurde, verschwunden war, wieder in die Gegenwart zurückholt. Daß Franz Pfemfert außerdem ein hervorragender Photograph war, zeigen die vielen Porträts Prominenter und auch Unbekannter aus seiner Werkstatt, die der Ausgabe beigegeben wurden. Theo Meier-Ewert Franz Pfemfert: Erinnerungen und Abrechnungen. Texte und Briefe. Hg. von Lisbeth Exner und Herbert Kapfer unter Mitarbeit und mit einem Vorwort von Ellen Otten. Miinchen: belleville Verlag Michael Farin 1999. 680 S. DM 98,79