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„Das Vergessen als Denkprinzip reifer Kulturvölker“.— Schon der Stadtschreiber in Jura Soyfers Stück „Vineta. Die versunkene Stadt“ (1937) antwortet auf die Frage des in das Reich der lebendig Toten verschlagenen Matrosen Jonny, worüber er denn hier noch nachdenken könne, mit den Worten: Ich denke über das Vergessen nach. Eine Philosophenschule hat sich um mich geschart. Wir nennen uns den Vergessenskreis. Hier verehre ich dir mein Standardwerk: „Das Vergessen als Denkprinzip reifer Kulturvölker“. Dem wackeren Stadtschreiber der im Meer versunkenen Stadt Vineta ist nun in dem an der Hochschule für angewandte Kunst in Wien lehrenden Philosophen und vormaligen Beamten des Wissenschaftsministeriums Rudolf Burger ein Nachfolger erwachsen. Gegen den Satz „Wer die Geschichte vergißt, ist dazu verurteilt, sie zu wiederholen“ argumentiert er in seinem Aufsatz „Die Irrtümer der Gedenkpolitik“ (Der Standard, 9.6. 2001): Zu allen Zeiten erschien den Menschen das Gegenteil richtig, und das Vergessenkönnen als moralische Leistung, welche die Kette des Unheils durchbrach. Und, in wiederholter Berufung auf das antike Griechenland: Es war eine zivilisatorische Leistung ersten Ranges, als es der griechischen Philosophie gelang, das mythische Erinnerungsgebot zu durchbrechen und an seine Stelle dessen Negation zu setzen: das Gebot, nicht zu erinnern. Ein Jura Soyfer war sich des Lacherfolgs von „Vergessen als Denkprinzip reifer Kulturvölker“ ziemlich sicher. Das Publikum der Wiener Kleinkunstbühnen jener Zeit verstand sehr gut und ohne weitere Erläuterung, in wessen Interesse vergessen werden sollte: im Interesse derer, die wenige Jahre zuvor das Parlament und die demokratischen Parteien aufgelöst hatten; derer, die die Ergebnisse eines ersten Weltkrieges durch einen zweiten zu revidieren beabsichtigten; derer, die den Goldschatz der Nationalbank mehrten und die Notstandshilfe kürzten. Vergessen sollten jene, von denen man Opfer verlangte und die man für weitere Opfer bereits ausersehen hatte. Die, die anderen Vergessen predigten, waren ihrerseits keineswegs gesonnen, auf ihre offenen Forderungen, auf ihre „wohlerworbenen“ Rechte, ihre Grundbuchauszüge, Privilegien, Expansionspläne, Kriegsrüstungen und Karteien politisch Verdächtiger zu vergessen. Der Kampf gegen das Vergessen war (und ist) eine politische Frage: Die abendländische Norm, daß die Völker nach jeder historischen Katastrophe mit neu aufgeschminkten Hoffnungen dem werktätigen Alltage sich zuzuwenden und zu vergessen hatten, während ihre Herren schon wieder auf die Begleichung alter Rechnungen sannen, war für Soyfer und sein Publikum keine „zivilisatorische Leistung ersten Ranges“, kein „Denkprinzip reifer Kulturvölker“. Mit der Vorstellung, „das Gebot, nicht zu erinnern“, entstamme der griechischen Philosophie, hätten sie nicht viel anfangen können. Sie hätten, aufgrund gewöhnlicher Mittelschulbildung, sogleich eingewandt, daß Anamnesis (Erinnerung, Wiedererinnerung) ein Zentralbegriff griechischer Philosophie sei, und nicht Amnestia (Vergessen, Vergebung) und die mit ihr (nicht nur bei Burger) nahe verwandte Amnesie (Gedächtnislosigkeit). Vielleicht wäre ihnen noch eingefallen, daß Rudolf Burger eher den Ausgang der Eumeniden des Aischylos im Kopfe haben müsse, wo Orestes freigesprochen wird von der Blutschuld des Mordes an seiner Mutter Klytemnästra, wo „alt Gesetz und uraltes Recht“, auf dessen Einhaltung die Rachegöttinnen drangen, niedergerannt und fortgerissen werden. Die Argumente, die bei dem Gericht zu Athen zugunsten des Orestes und seiner Rachetat vorgebracht werden, stellen nicht das Prinzip der Rache in Frage, wohl aber die Überreste matriarchaler Fruchtbarkeitskulte, die besondere Verehrung der Frau als Gebärerin. Gott Apoll, der die Partei des Orestes ergreift, erklärt hier auch den Mann für zeugungsfähig, weil Zeus die Athene aus seinem Kopf entspringen ließ. Man hat die Soyfer und das Publikum der Kleinkunstbühnen zu „entfernen“ gewußt, teils wurden sie durch demütigende Unterwerfung des rebellischen Geistes beraubt, teils wurden sie in alle Welt zerstreut, teils wurden sie „von den Nationalsozialisten erst in der Erziehungsanstalt eines Konzentrationslagers pädagogisch behandelt, dann nach Polen abgeschoben, schließlich — ein stammelndes Gespenst — vergast“ (Berthold Viertel). Als Rudolf Burger nun als neuer Stadtschreiber von Vineta vor das Wiener Publikum hintrat, erhob sich kein spontanes Gelächter. - K.K. Franz Kain Kolloquium 2001 „Die Ohnmacht in der Literatur“ Innsbruck, 11.-12. Oktober, Literaturhaus am Inn, Josef-HirnStraße 5/X Veranstaltet von der Theodor Kramer Gesellschaft und dem Literaturhaus am Inn in Zusammenärbeit mit der Grazer Autorenversammlung, Tiroler Gruppe. Gefördert von der Kunstsektion des Bundeskanzleramtes, dem Land Tirol und der Stadt Innsbruck. Teilnehmer: Hans Augustin (Thaur); Siglinde Bolbecher (Wien); Erich Hackl (Wien/Steyr); Eugenie Kain (Linz); Konstantin Kaiser (Wien/Innsbruck); Wulf Kirsten (Weimar); Vladimir Vertlib (Salzburg); Erika Wimmer (Innsbruck). Erich Hackl und Wulf Kirsten werden Franz Kain in Vorträgen vorstellen. Siglinde Bolbecher wird über die Ohnmacht im Kontext von Sozialphilosophie und Sozialarbeit sprechen. Im Rahmen des Kolloquiums wird die Dokumentation des Kolloquiums 2000 in Linz „Abwesenheit und Gegenwart des Mitleids in der Literatur mit Beiträgen von Erich Hackl, Eugenie Kain, Konstantin Kaiser, Walter Kohl, Anna Mitgutsch und Walter Wippersberg vorgestellt. Im Vorfeld des Kolloquiums lesen Eugenie Kain, Konstantin Kaiser und Vladimir Vertlib am Mittwoch, 10. Oktober, im » Lurmbund“, Innsbruck, Müllerstraße 3, aus ihren neu erschienen Büchern.