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Es war noch während des Krieges, vielleicht Anfang Februar 1944 — Celan war soeben aus dem rumänischen Arbeitslager in Tabaresti in der südlichen Moldau zurückgekehrt -, daß Chaim Giniger, der Czernowitzer Jiddist und Bücherwurm, der, angelockt von der Privatbibliothek meines Vaters, der zweitgrößten der Stadt, Dr. Silbermann, meinen späteren Mann, in unser Haus einführte und zusammen mit diesem einen Besuch bei Rose Ausländer in die Wege leitete, damit Paul Antschel, der später als Paul Celan in die Literaturgeschichte eingehen sollte und damals zu meinem Freundeskreis gehörte, ihr aus seinen Gedichten vorlese. Ich hatte in Gesprächen wohl schon ihren Namen gehört, doch nichts von ihr gelesen. Die beiden älteren Herren hingegen kannten sie bereits seit den frühen dreißiger Jahren, letzterer besaß sogar ihren ersten, 1939 im Czernowitzer Literaria-Verlag erschienenen Gedichtband Der Regenbogen und hatte im ersten Russenjahr 1940/41 mit ihr, Alfred Kittner und Immanuel Weißglas zusammen in der sowjetischen Stadtbibliothek gearbeitet. Wir gingen also an einem Sonntagnachmittag zu viert hin und wurden von einer hochgewachsenen, schlanken, rassigen Dame in mittleren Jahren, deren auffallend tiefe Stimme fast männlich klang, überaus warmherzig begrüßt und anschließend von ihrer Mutter, mit der sie die bescheidene, kleinbürgerlich eingerichtete Wohnung teilte, mit Tee und selbstgebackenen Honigund Mohnplätzchen, den typischen jüdischen „Kichlach“ (kleinen Kuchen), bewirtet. Darauf kam die Gastgeberin unserer Aufforderung nach und las uns einige ihrer Gedichte vor, die mich schon allein des Themas wegen -— es dürften Ghettomotive gewesen sein — sehr beeindruckten. Als dann Paul sehr selbstsicher einiges zum besten gab, geriet Rose Ausländer ins Schwärmen. Die Begeisterung beruhte nicht auf Gegenseitigkeit. Rose Ausländer war von den ungewohnten Metaphern und Wendungen in den Erstlingsgedichten des jungen Mannes sofort elektrisiert, als sehr sinnliche Frau vermutlich auch von seinem gewinnenden Äußeren eingenommen. Sie war von ihm so beeindruckt, daß sie sofort ein Gedicht auf ihn verfaßte: „Du hast mit Deinen Sternen nicht gespart/ ... Die guten alten Mächte dienen Dir.“ Ihn jedoch sprachen ihre Gedichte, wie er auf dem Heimweg versicherte, nicht sonderlich an, sie schienen ihm zu traditionell, und ich glaube nicht, daß er Rose Ausländer hernach noch 6fters aufsuchte. Es sei denn, um ihr, zusammen mit Weißglas, Übersetzungen aus dem Englischen zur Beurteilung vorzulegen, hatte sie doch aufgrund ihres längeren Aufenthaltes in den USA nicht bloß englische Privatstunden gegeben, sondern amerikanische Lyrik selber übersetzt und verfügte daher gewiß über gründlichere Kenntnisse in dieser Sprache als ein Student der Anglistik sie an einer rumänischen, beziehungsweise ukrainischen Universität erwerben konnte. Die beiden dichtenden Jugendfreunde wetteiferten miteinander nicht bloß, indem sie sich die Aufgabe stellten, über das gleiche Thema ein Gedicht in ihrer deutschen Muttersprache zu verfassen, dem sie dann fast gleichlautende Titel gaben, wie z.B. An den Wassern Babels (Celan) und Babylonische Klage (Weißglas), oder indem sie gleichlautende Metaphern verwendeten, was, wie im Falle von Weißglas’ Gedicht Er und Celans Todesfuge, zu lächerlichen Plagiatspekulationen führte und viel böses Blut verursachte, sondern auch indem sie dieselben Sonette von Shakespeare sowie Gedichte von A.E. (Alfred Edward) Housman, W.B. (William Butler) Yeats, Rupert Brook und Edward Estlin Cummings übersetzten. Letzteren schätzte Rose Ausländer so sehr, daß sie ein Gedicht auf ihn schrieb. Einen „literarischen Salon“, in dem die Dichter der Bukowina einander ihre Produkte vorlasen und dann Meinungen darüber austauschten, wie er manchem bundesdeutschen Literaturwissenschaftler oder Kritiker vorschwebt, gab es allerdings weder in Czernowitz bei Rose Ausländer noch später in Bukarest bei ihrem und Paul Celans Mentor Alfred Margul Sperber. Im Spätsommer des Jahres 1946 sah ich sie dann in Bukarest wieder. Ich hatte, wie auch Paul, Czernowitz bereits im April 1945 verlassen, war Schauspielerin am Jiddischen Staatstheater der rumänischen Hauptstadt geworden und studierte zugleich, sozusagen als Werkstudentin, die Prüfungen ablegen durfte, ohne alle Vorlesungen besuchen zu müssen, an der dortigen Universität Germanistik. Rose Ausländer sah mich nicht auf der Bühne, denn unser Theater befand sich im heißen Sommer in der Provinz auf Tournee, während ich diese Zeit zum Lernen nutzte. Sie kam jedoch zu einer Sonntagsmatinee, bei der ich unter anderem Fabeln von Eljeser Steinberg und Balladen von Itzik Manger vortrug, Dichtern, die sie persönlich gekannt und so sehr geschätzt hatte, daß sie wunderschöne Gedichte zum Gedenken an sie verfaBte. Freudig überrascht, daß ich Jiddisch gelernt hatte, das sie viel besser beherrschte als ich, erzählte sie mir, daß sie in Kürze nach Amerika weiterreise, wohin Freunde ihr ein Visum verschafft hätten. Die 1926 erworbene amerikanische Staatsbürgerschaft hatte sie wegen ihres zu häufigen Hin- und Herpendelns zwischen Europa und den USA 1937 verloren. Die Ehe mit Ignaz Ausländer, mit dem sie nach dem Tod des Vaters ausgewandert war, hielt nicht lange, denn sie verliebte sich während eines Besuches in Czernowitz in den um vierzehn Jahre älteren verheirateten Graphologen Helios Hecht, lebte eine Zeit lang mit ihm in Bukarest, mußte aber immer wieder nach Hause, um die erkrankte Mutter zu pflegen, an der sie sehr hing. Daß sie sich wieder auf unbestimmte Zeit von diesem über alles geliebten Menschen trennen mußte, erfüllte sie mit Sorge und Kummer, während ich sie um die Möglichkeit, in den Westen zu gelangen, beneidete. Ehe sie im September Bukarest verließ, gelang es Alfred Margul Sperber, ihrem Freund aus den gemeinsam in New York verbrachten zwanziger Jahren — er war es auch, der 1939 im Czernowitzer Literaria-Verlag ihren ersten Gedichtband Der Regenbogen herausgebracht hatte — im Zentrum der Stadt, im schönen Dalles-Saal, in dem sonst Konzerte stattfanden und Vorträge gehalten wurden, eine Lesung von ihr zu veranstalten, die erfreulicherweise großen Anklang fand. Ich war erstaunt zu sehen, wieviel Menschen in Bukarest offenkundig deutsch verstanden und Interesse an Gedichten einer deutschsprachigen Jüdin aus der Bukowina