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Fuhr sie zur Kur, holte sie vorher genaue Erkundigungen ein und traf immer die richtige Wahl. Einmal empfahl sie auch mir ein sehr gut geleitetes, ruhig gelegenes Kurhaus in Cademario im Tessin, mit dem ich wie sie sehr zufrieden war. So unpraktisch sie sich gab, verstand sie es wunderbar, Leute für sich zu mobilisieren. Als sie einmal im Evangelischen Krankenhaus lag, mußte ich zu Hause meine krebskranke Mutter pflegen, dennoch ging ich sie mit einem großen Glas selbst gekochtem Apfelkompott besuchen. Geringschätzig schob sie auf dem Nachtkästchen das Glas beiseite und sagte taktlos: „Wozu haben Sie mir das gebracht? Mich besucht jeden Tag eine Gräfin und versorgt mich mit allem, was ich brauche.“ Ja, sie wußte die Leute für sich auf Trab zu halten. Ich aber stellte damals für lange Zeit meine Besuche bei ihr ein. Der Erfolg stieg ihr allmählich zu Kopf. Sie wurde immer egozentrischer, anmaßender, auch ihre Stimme herrischer, trotz ihrer abnehmenden Kräfte. Mein Mann schrieb eine Zeit lang Buchbesprechungen für die Jüdische Allgemeine Zeitung. Eines Tages rief sie ihn an, um ihn im vorwurfsvollen Ton zu fragen: „Dr. Silbermann, haben Sie schon mein neuestes Buch rezensiert?“ „Frau Ausländer, haben Sie es mir denn geschickt oder vom Verlag zukommen lassen?“ „Ja, das ist doch eine teure bibliophile Ausgabe mit Siebdrucken von Otto Piene; die müssen Sie sich selber kaufen.“ Zum Jahreswechsel 1973/1974 besuchte Alfred Kittner, der damals noch in Bukarest lebte, seinen in Düsseldorf ansässigen Bruder und kam natürlich auch zu uns. Ich fuhr mit ihm zu Rose Ausländer ins Altenheim. Die beiden tauschten Reminiszenzen aus, beider Erstlingsbände, ihr Regenbogen und sein Wolkenreiter, waren 1939 im Czernowitzer Literaria Verlag erschienen, sie hatten im ersten Russenjahr 1940/41 zusammen in der Stadtbibliothek gearbeitet, sie fragte ihn nach gemeinsamen Bekannten, die noch in der rumänischen Hauptstadt lebten, nach Dr. Heitner, einem ihr freundschaftlich verbundenen Arzt, und wollte besonders viel über ihren ehemaligen Mentor Alfred Margul Sperber wissen, mit dem Kittner eng befreundet war. Als Kittner sich 1980 ständig in der Bundesrepublik niederließ, besuchte ich sie mit ihm im Dezember ein zweites Mal. Auch diesmal hatte ich den Eindruck, sie behandle ihn eher herablassend und fordernd als herzlich, war sie doch schon mit so vielen Preisen bedacht worden, während er im Westen noch nichts veröffentlicht hatte. Das Erscheinen seines Bandes Schattenschrift im Aachener Rimbaud Verlag im Jahre 1988 erlebte sie ja nicht mehr. Gelten ließ sie wahrscheinlich unter allen Bukowiner Lyrikern außer sich selber und vielleicht noch ihrem einstigen „Entdecker“ Alfred Margul Sperber wahrscheinlich nur Paul Celan. Als ich nach dessen Freitod auf dem entlegenen christlichen Pariser Friedhof Thais sein Grab besuchte und, nach Hause zurückgekehrt, Rose Ausländer dieses ungepflegte, von Unkraut überwucherte Grab schilderte, auf dem lediglich wilder Mohn und gelber Löwenzahn oder Hahnenfuß blühte, ihr auch ein Foto von der vom Suhrkamp Verlag gestifteten schwarzen Marmorplatte mitbrachte, vor die ich einige langstielige rote Rosen gesteckt hatte, griff sie gleich nach dem Bleistift, um meine Worte in die folgenden Verse zu verwandeln: „Paul Celans Grab/ Keine Blumen gepflanzt/ das sei überflüssig// Nichts Überflüssiges/ nur/ wilder Klatsch-Mohn/ schwarzzüngig/ ruft uns ins Gedächtnis/ wer unter ihm/ blühte.“ Zwei andere Gedichte auf ihn hatte sie ja schon viel früher einmal verfaßt. Daß die schöpferische Kraft dieser so angeschlagenen hochbetagten Frau fast bis zu ihrem letzten Atemhauch unvermindert blieb, erfüllte mich trotz ihrer manchmal verletzenden Art mit Hochachtung. Wie kein zweiter der vielen Bukowiner Lyriker hat sie während all ihrer Entwicklungsphasen in unzähligen Gedichten die Landschaft unserer gemeinsamen, verlorenen Heimat besungen und in den schönsten und treffendsten Worten unserer Heimatstadt Czernowitz ein Denkmal gesetzt. Dafür bin und bleibe ich ihr unendlich dankbar. Ihr außerordentlich umfangreiches literarische (Euvre, in dem sich moderne, nach äußerster Knappheit strebende Form mit der ewig gültigen Aussage starken Gefühls und reicher Bildervielfalt verbindet, hat unzählige begeisterte Freunde gefunden und wurde vom S. Fischer Verlag in einer achtbändigen Gesamtausgabe sowie in vielen Einzelausgaben im Taschenbuchformat veröffentlicht. Gedichte von ihr wurden vertont und haben bildende Künstler inspiriert. Die Ausstellung im Düsseldorfer Gerhart-Hauptmann-Haus anläßlich ihres 100. Geburtstages, ebenso wie meine Lesung aus ihrem dichterischen Werk am 11. Januar, dem Eröffnungsabend, und das Internationale Symposium, das am 1. und 2. Februar in diesem Rahmen stattfand, stießen bei Presse und Publikum auf großen Anklang. Eine jüngere Referentin, deren Eltern angeblich aus einer Bukowiner Kleinstadt stammen, monierte, Rose Ausländer hätte durch ihr nostalgisches Heraufbeschwören der „guten alten Zeit“, in der es angeblich „Menschen, die sich verstehen“ und „viersprachig verbrüderte Lieder“ gab, ein verklärtes Bild dieser Gegend geschaffen, einen Mythos Bukowina. In der Tat wird dieses ehemals östlichste Kronland der Donaumonarchie heutzutage manchmal sogar als Vorbild für ein vereintes Europa dargestellt. Mag sein, daß hier idealisiert wird, aber ich gab der so kritischen Nachgeborenen zu bedenken, daß gemessen an dem, was nachher über uns hereinbrach, das Einpferchen der gesamten jüdischen Bevölkerung der Stadt in ein Ghetto und die darauf folgende Deportierung der meisten in die Vernichtungslager von Transnistrien, die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, in die Rose Ausländers Jugend fällt, bestimmt eine friedliche war. Selbst Weißglas und Celan, zwei Dichter der Nachfolgegeneration, aufgewachsen zwischen den beiden Weltkriegen, als der rumänische Nationalismus für Juden immer unbehaglicher wurde und 1937/38 sogar eine faschistische, virulent antisemitische Regierung an die Macht kam, legen in ihren Gedichten und Briefen von der Sehnsucht nach dem Kronland, das sie ja nur vom Hörensagen kannten, der „Gegend, in der einmal Menschen und Bücher lebten“ (so Paul Celan bei der Verleihung des Bremer Literaturpreises im Januar 1958), der verlorenen Heimat überhaupt beredtes Zeugnis ab. Dies möchte ich abschließend anhand einiger Zitate belegen: Immanuel Weißglas: Die Kaiserstraße Staubfurche im Ahasverfluche In mir rauscht Blut der roten Buche, In meinem Nordlandtrog bewahre Ich morsche Wogen toter Jahre, Und zerrt die Greisgier der Geschichte Den Leib des Landes ins Zunichte, Mich hegt in Wirrnis und Verlohen Des Doppeladlers müdes Drohen. Es sprießt ein abtrünniger Samen Aus meinem namenlosen Namen: Im späten Wägen alter Maße Blüht Wienweh an der Kaiserstraße“