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Als ich ihn kennenlernte, war er ein glühender Anhänger Gorbatschows. Schon weit über achtzig, stattete er damals ein oder zwei Mal pro Woche dem Institut für Osteuropäische Geschichte, seinem ehemaligen Arbeitsplatz, einen Besuch ab, um dort russische Zeitungen zu lesen. Er verfolgte die Entwicklung in der Sowjetunion genau und hoffte sehr, die politischen Verhältnisse würden sich zum Besseren ändern, der Kommunismus könnte dort endlich eine Chance haben. Wir stritten mit ihm, erzählten etwas von den Verflechtungen des Weltmarktes, und davon, daß sich ein einziges Land nicht abkoppeln könne und in absehbarer Zeit die kapitalistische Barbarei auch dort ihren Einzug halten würde. Wir trafen ihn damals nur selten, fanden wenig Gemeinsames, das uns einander näher hätte bringen können. Natürlich wußten wir von seiner Flucht aus Österreich und seiner Gefangenschaft in russischen Lagern, doch sprach er darüber nur selten und wir fragten ihn auch nicht danach. Sein mächtiger Schädel mit den großen wasserblauen Augen schien viel zu groß für seinen zarten und schmächtigen Körper, der sich unter der Last der Jahre immer mehr gekrümmt hatte. Auch nachdem er die Neunzig längst überschritten hatte und sich nach seinem letzten Unfall nur mehr auf zwei Stöcke gestützt fortbewegen konnte, hatte er noch immer ein erstaunlich junges Gesicht, es war beinahe faltenlos, wie das manchmal bei älteren Männern der Fall ist. War er nervös oder aufgeregt, so wurde seine Stimme merkwürdig hoch und überschlug sich. 1947, nach sieben Jahren Lagerhaft und dreiundsiebzig Tagen Transport im Viehwaggon war Georg gemeinsam mit anderen ehemaligen Häftlinge in Ödenburg an der österreichischen Grenze angekommen. Drei Tage standen sie dort, hungrig und durstig, bis die zuständige Stelle, freilich erst unter dem Druck der sowjetischen Besatzungsmacht, endlich die Erlaubnis zur Einreise nach Österreich gab. Es sei mehr als symbolisch gewesen, sagte er einmal, „daß man uns nicht hereingelassen hat, es herrschte eine eiserne, unüberwindbare Abneigung gegen Emigranten“. Vom Ostbahnhof ging’s dann direkt ab ins Obdachlosenheim in der MeldemannstraBe, wo man ihnen, noch bevor es etwas zum Essen gab, die Hausordnung beibrachte. „Ich hab mir dann gedacht“, erzählte er, „daß uns, ebenso wie den österreichischen Kriegsgefangenen, auch etwas zustehen würde, schließlich sind wir ja von den Sowjets auch wie Kriegsgefangene behandelt worden. Ich hab’ in Erfahrung gebracht, welcher Abgeordnete speziell auf Kriegsgefangene angesetzt ist. Es war ein SP-Abgeordneter in Hernals. Ich habe mir den Namen von diesem Herrn Gott sei Dank nicht gemerkt. Bin also zu ihm, hab’ ihm gesagt man soll uns dasselbe geben wie den Kriegsgefangenen, doch das Schlagwort war, nur ehemalige Wehrmachtsangehörige kriegen was, wir seien keine Wehrmachtsangehörige. Als ich gesagt habe, das spielt doch keine Rolle, wir sind nicht einmal 200 Leut’, hat er vor Lachen gebrüllt und gesagt, ja deswegen bekommt ihr ja auch nix, weil ihr so wenige seid.“ Als ungeliebtes Kind in großbürgerlichen Verhältnissen zur Welt gekommen, war er von seiner Mutter schon bald nach der Geburt ins Dienstbotenzimmer, in einen der hintersten und finstersten Winkel der herrschaftlichen Wohnung verbannt worden. Der Mangel an Liebe und Geborgenheit war im späteren Leben kaum mehr auszugleichen. Im Gegenteil! Wie in der Familie hatte er sich auch in der Gesellschaft ständig als Eindringling zu behaupten. Selbst für uns, die wir mit seiner Geschichte vertraut waren, war es nicht immer leicht, seiner manchmal aufdringlichen und besitzergreifenden Art gegenüber Gelassenheit zu wahren. Unangenehm konnte er werden, wenn er nicht der Mittelpunkt einer Gesellschaft war. Da galt es schon, eine besondere Geduld an den Tag zu legen, wenn man diesen kleinen, für viele nur kuriosen Alten, der auf den ersten Blick so wenig Gewinnendes und Sympathisches an sich hatte, wirklich näher kennen lernen wollte. Bis zu seinem Tod bewohnte er eine Sechszimmer-Wohnung, umweit der Strudelhofstiege. Die Wohnung samt Einrichtung stand in merkwürdigem Kontrast zu dem großbürgerlichen Ambiente des renovierten Gründerzeit-Hauses. Sie war seit den sechziger Jahren nahezu unverändert geblieben. Damals war seine Frau, die er im Lager kennengelernt hatte, an den Folgen der Haft gestorben. Da die sechs Zimmer in der belle Etage einfach zuviel für ihn waren, hielt er sich stets nur in den drei vorderen, freilich schönsten Räumen auf. Um dorthin zu gelangen, mußte man auf knarrendem Linoleum ein langes dunkles Vorzimmer durchqueren, dessen eine Seite mit einem Plastikvorhang abgetrennt war. Dahinter waren neben Putzmitteln unzählige Papier- und Plastiksäcke gestapelt, die er im Laufe der Zeit gesammelt hatte. Längst waren die Wände mit gelb-grauer Patina überzogen, die die Zimmer, trotz der großen Fenster und des Balkons, finsterer erscheinen ließen, als sie in Wirklichkeit waren. Auch die Sitzgelegenheiten und das stets mit einer Decke versehene Sofa waren höchst unbequeme Relikte aus den fünfziger Jahren, ebenso der Tisch, auf dem ein altes verklebtes, einst durchsichtiges Wachstuch das darunterliegende Baumwolltischtuch schützte. Zufällig bemerkten wir irgendwann zu unserem blanken Entsetzen den desolaten Plastikschirm einer alten Stehlampe, der durch die Hitze der Glühbirne zum Teil weggeschmolzen war und einen Schwelbrand auszulösen drohte. Daß er überhaupt in diesem Haus wohnte, war natürlich das Ergebnis eines kuriosen Zufalles: Da die Wohnung seiner in Theresienstadt ermordeten Eltern ‚arisiert’ worden war, mußte er sich um eine neue Bleibe umsehen. Eines Tages erschien dann auch in der Meldemannstraße ein Mann vom Wohnungsamt und nahm die Daten Georg Rauchingers und seiner zukünftigen Frau auf: „Meine Frau“, so erzählte er uns in seinem letzten Interview, „war eine geborene Reismann, und da hat der Beamte den Kopf geschüttelt und ‚Reismann, Reismann’ gemurmelt und dann gefragt: ‚San se verwandt mit dem Mundl Reismann?’ Nun, es gab bis 1934 in den roten Bezirken Wiens sogenannte Bezirkskaiser, die Bezirksobmänner von der SP, und der Reismann war so einer, und zwar in Meidling. Das war ein Oligarch. Und da hat meine Frau spontan reagiert und gesagt: ‚Na ja, das war mein Onkel.’ Daraufhin ist der aufge11