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sprungen und hat gesagt: ‚Na, a Nichte vom Mundl Reismann in der Meldemannstraße! I war ja sei Sekretär, i war sei rechte Hand! I find was für Sie, mei Ehrenwort i find was für Sie und i find was g’scheits.’ Und es hat nicht lange gedauert und er ist gekommen und hat etwas Geniales gehabt und zwar diese Wohnung. Wir haben die Wohnung gekriegt und sind sofort rein und haben buchstäblich auf der Erd’ geschlafen. Nur über unsere Leich’ geh’ ich raus, hab’ ich mir geschworen.“ Es waren diese vielen Geschichten, die er, der ein ausgezeichnetes Gedächtnis besaß, uns immer wieder zu erzählen wußte, und die uns im Laufe der Zeit in seinen Bann zogen. Als scharfer Beobachter verfügte er über ein unerschöpfliches Reservoir an Episoden, die er in stets neuen Anläufen mitteilte, ganz ähnlich wie in seinem einzigen erhaltenen Roman, der aus vielen einzelnen Novellen montiert ist. Er trägt den Titel „Der Eindringling“. Trotz vielfacher Bemühungen ist er bis heute leider nicht erschienen. Wenn wir zu ihm kamen, hatte er oft kleine Zettel parat, worauf er sich notiert hatte, was ihm wichtig schien und wovon er annahm, es würde uns interessieren. Dermaßen vorbereitet, geschah das Erzählen beinahe zwanghaft, war auch als Lohn gedacht dafür, daß wir ihn besuchten, so als müßte er sich unsere Zuneigung durch Erzählen immer von neuem verdienen. Der große Karl KrausVerehrer hielt in seiner schäbigen Wohnung imaginäre 6ffentliche Lesungen, deren Publikum wir abgaben. Auch als er schon längst im Spital lag, hörte er nicht auf zu erzählen, fragte immer wieder, ob wir ‚damit’ etwas anfangen könnten. Wenn wir wissen wollten, wie es ihm, dem Todkranken, denn gehe, erhielten wir meist nur ironische Antworten. „Operation gelungen, Patient tot“, diesen albernen Spruch hörten wir mehrmals, nicht ahnend wie rasch er sich bewahrheiten würde. Viele seiner Erinnerungen waren freilich durch die plötzlich veränderten politischen Verhältnisse in diesem Land aktiviert und wachgerufen worden. Als im vergangenen Jahr mit der FPÖ eine rechtsradikale Partei an die Regierungsmacht gekommen war, empfand er das als „Schock“, furchtbar sei die Situation, sagte er, „eine Schmach und eine Schande für dieses Land“. Und als die Sanktionen über Österreich verhängt wurden, meinte er nur lapidar: „Wenn sich jetzt das Ausland an Österreich die Schuhe abputzt, dann ist das für mich ein erhebendes Gefühl.“ Wir waren damals sehr erstaunt, daß er ganz ähnlich dachte wie wir, denn natürlich war er aufgrund seiner Herkunft und Vergangenheit auch so etwas wie eine besondere Autorität für uns, die uns Kraft gab. Es war merkwürdig, aber in diesem letzten Jahr war er radikaler geworden, unduldsamer, vor allem in politischen Fragen. Er hatte sich eben sehr genau gemerkt, was die Antisemiten ihm und anderen Juden angetan haben, wußte, wozu sie jederzeit fähig sind und wie tief der Antisemitismus in Österreich verwurzelt ist. Keinen Augenblick vergaß er, daß man ihn in Wien nach 1945 oft als den „letzten Dreck“ behandelt hatte, ganz nach dem damals gängigen Spruch: „Ein Jud’ soll froh sein, wenn er durch den Rost gefallen ist.“ Diese Unversöhnlichkeit hielt ihn wach. Je näher sein Tod rückte, desto hemmungsloser schimpfte er auf die Regierung, aber auch auf Land und Leute. Als er längst im Spital lag, wurde er manchmal so ausfällig und renitent, daß die, die ihn besuchten, in Sorge gerieten, daß Bettnachbar, Schwestern oder Ärzte ihm, der völlig hilflos, aber zornig und tobend dalag, etwas antun könnten. Der alte neue Zorn tat sich nun, da er schon sehr geschwächt war, nahezu ungehemmt kund. Richtig ernst genommen hat das niemand, man hielt ihn ganz einfach für einen verrückten Professor. 12 Über sechs Jahre hatte er in russischen Lagern, zunächst in Novosibirsk, später in Zentralasien, in Kasachstan, verbracht. Weil er keinen österreichischen Paß besaß und auf einer deutschen Liste stand, war er von den Sowjets in Riga, wenige Tage bevor die Deutschen einmarschierten, verhaftet und nach Sibirien transportiert worden. Von den Sowjets interniert worden zu sein, das empfand er später als „ausgesprochenes Glück“. Denn hätten die Deutschen ihn erwischt, so wäre er als Jude wohl kaum am Leben geblieben. Es war ein Unterschied von Leben und Tod. Das Milieu im Lager war, so sagte er, „ziemlich kriminell und gemischt, hauptsächlich Juden; Kroaten, Ungarn, Franzosen, Rumänen, Österreicher, alles was Krieg gegen die SU geführt hat. Auch Frauen waren dort interniert. Es gab eine Essensbrigrade, das waren Nazis, die waren aber isoliert, Konflikte hat es keine gegeben.“ Georg meldete sich bei der Kommandantur, wollte zur Armee und versuchte eine österreichische Truppe aufzustellen. (Die Österreicher galten nicht als Deutsche und konnten daher zur Armee.) Unerträglich sei es für ihn gewesen, daß man auf die Soldaten des Dritten Reiches nicht schießen konnte. „Ich stand auf dem Standpunkt, es ist eine Schmach, daß sich für uns die Rotarmisten totschießen lassen, damit wir hier unter doch gesicherten, wenngleich mangelhaften Bedingungen überleben können. Doch mit diesem Gedanken hat sich kein Österreicher befaßt. Die Einstellung war, die sollen sich für uns ‚dastessen’. Hauptsache mir kommen durch. Mein Prinzip war: Gegen Hitler wäre ich mit des Teufels Großmutter gegangen, dieses Verhalten war abstoßend. Ihre Sorge war nur, daß die Amerikaner vor den Russen nach Wien kommen. Keiner hat auch nur die Spur von Sympathie für die Sowjets gehabt. Nichts.“ Offenkundig hat er nach 1945 in ganz unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Kreisen verkehrt, wobei er stets darauf achtete, daß die Menschen, die diese jeweiligen Welten repräsentierten, einander nicht begegneten; nie wäre es ihm etwa in den Sinn gekommen, uns mit einem seiner anderen Freunde oder einer seiner Freundinnen bekannt zu machen, was schließlich zur Folge hatte, daß wir bei seinem Begräbnis buchstäblich keine Menschenseele kannten. Doch genau betrachtet, entsprachen diese verschiedenen Identitäten, vielmehr diese Nicht-Identität, der Wirklichkeit seines Lebensvollzuges. Bourgeois vom Scheitel bis zur Sohle, der immer wieder und manchmal zu unserem Ärgernis geistesaristokratische und bildungsbürgerliche Züge penetrant zur Schau trug, führte er umgekehrt ein spartanisches Leben, war von einer Anspruchslosigkeit, die uns immer wieder rührte, manchmal auch beschämte. Wirklichen Luxus dürfte er nur in jungen Jahren gekannt haben. Selbst die Bücher, die er ständig las und kurioserweise auch manchmal verborgte, bezog er regelmäßig aus der Städtischen Bücherei. Seine Küche war seit Jahren unbenutzt, nie sah ich dort ein Stück Brot oder Obst, in Wirklichkeit war es ein Ort zum Verhungern. Nur einmal pro Tag kam ein Essensdienst zu ihm, und diese Mahlzeit schien ihn satt zu machen. Brachte man ihm Obst oder Süßigkeiten, so machte er stets ein Theater und mußte zum Essen überredet werden. Es fiel ihm unerhört schwer, sich beschenken zu lassen. Der einzige Genuß, den er sich tatsächlich regelmäßig gönnte, waren ausgedehnte Reisen. Und als ob er geahnt hätte, daß seine Zeit nur mehr kurz bemessen war, ist er in seinem 93. Lebensjahr noch vier- oder fünfmal unterwegs gewesen, hatte sich unter anderem mehrere Wochen auf Kuba und in Griechenland aufgehalten. Bei dem Versuch, sein Leben zu rekonstruieren, stießen wir auf einen seltsamen blinden Fleck: Er hatte, so vermuteten wir