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damals, in den 1920er und 1930er Jahren das Leben eines ‚Taugenichts’ geführt. Denn trotz aller Fragen verriet er nie, was er in der Zeit zwischen seinem Abitur am Akademischen Gymnasium und seiner Flucht vor den Nazis getrieben hatte. So gerne er erzählte, drehten sich seine Geschichten doch meist um seine Flucht, seine Gefangenschaft in den sowjetischen Lagern und um seine Rückkehr nach Wien. Irgendwann haben wir dann auch aufgehört zu fragen, wie und womit er seine Zeit verbracht hatte, es war auch gar nicht wichtig. Wahrscheinlich, so dachten wir, hat er damals, genau wie heute auch, von morgens bis abends gelesen. Erst nach seinem Tod erfuhren wir, wie recht wir mit unseren Vermutungen hatten: Er war damals zwischen Wien und Riga hin- und hergependelt und hatte mehrere Jahre auf dem Gut seiner aristokratischen Frau in Lettland verbracht. Als im vergangenen Sommer zunächst in Amerika über die Restituierung jüdischen Eigentums verhandelt wurde und eine, wenngleich lächerlich geringe finanzielle ‚Entschädigung’ für das seinen Eltern und ihm Geraubte in Aussicht stand, freute er sich sehr. Ohne sich irgendwelche Illusionen über die tatsächliche Bedeutung dieser Geste zu machen, war es ihm eine große Genugtuung, daß der österreichische Staat endlich zur Kassa gebeten wurde. Wenig später tauchte dann auch noch durch Zufall das von seinem Vater gemalte „Bildnis der Mme. Mitzuko Araki“ auf. Er setzte sich mit der Kultusgemeinde in Verbindung und hoffte, das Porträt würde irgendwann einmal in seinem Zimmer hängen. Wir wünschten ihm sehr, es noch zu erleben. Er war ruhiger geworden in seinem letzten Jahr und auch entspannter; er hörte auf mit seiner Manie, ständig Karl Kraus zu zitieren, erzählte uns sogar ab und zu einen jüdischen Witz und war manchmal von unerwarteter, rührender Zärtlichkeit. Wenn wir etwa, wie im Falle Omufuma, des Flüchtlings, der bei der Abschiebung aus Österreich, mit Klebebändern geknebelt, qualvoll erstickt wurde, wieder einmal verzweifelt waren, konnte ein Besuch bei ihm wahre Wunder wirken. Seine Negativität war unübertroffen und wirkte befreiend. Überzeugt von der „abgrundtiefen Verkommenheit“ der augenblicklichen politischen Verhältnisse und der „biederen Verlogenheit“, die in Österreich herrscht, gelang es ihm immer wieder, unsere Niedergeschlagenheit in Empörung und Zorn zu verwandeln. Zugleich vermittelte er uns auch ein Maß an Gelassenheit, wie es nur jene aufbringen können, die das Glück hatten, den nationalsozialistischen Terror zu überleben. In den letzten Monaten sind wir ihm unerwartet nahegekommen. Das heißt, er, der Eindringling, hat es, wenige Monate vor seinem Tod, auch zugelassen, daß man ihn liebgewinnen konnte. Sicher hätte er sich in seinem Alter nicht operieren lassen dürfen, zumal die Operation auch nicht unbedingt nötig gewesen wäre. Aber auch wir, die wir zuletzt regelmäßigen Kontakt zu ihm hatten, konnten ihn von diesem Schritt nicht abhalten, alles ging rasend schnell und wir erfuhren erst davon, als er längst im Spital lag und alles vorbei war. Warum er sich so wild dazu entschlossen hatte, ist unklar. Sicher, er war auch ein großer Hasardeur. Als Bergsteiger, der darauf stolz war, „sämtliche alpine Gipfel‘ Europas erklettert zu haben, hatte er auch noch in hohem Alter ein ganz besonderes, viriles Verhältnis zur Gefahr. Bourgeois, der er war, hatte er selbstverständlich eine Zusatzversicherung. Er wäre schon längst tot, pflegte er im Brustton tiefster Überzeugung zu sagen, wenn er nicht dieses Privileg besäße. Im festen Glauben, daß ein Primararzt von seinem Handwerk wesentlich mehr verstünde als jeder andere beliebige Arzt, und daß man in einem Einbettzimmer isoliert wesentlich schneller und besser gesunde, als im Schlafsaal mit anderen Patienten, war er sich seiner Sache auch diesmal sicher. Vielleicht hatte er mit 93 Jahren auch einfach genug vom Leben. Möglicherweise aber hatte auch seine ,,Verhaftung“ eine Rolle gespielt und ihn zu diesem Schritt bewogen. So nämlich bezeichnete er später die Umstände, unter denen er vom Notarzt abgeholt und ins Spital gebracht worden war. Spät nachts um eins waren sie gekommen, erst zwei Stunden nachdem der Nachbar den Notruf getätigt hatte. Angebrüllt und geschrien habe man mit ihm, beeilen solle er sich, schließlich seien nur zwanzig Minuten für einen Patienten vorgesehen; zappelig sei er gewesen auf seinen beiden Stöcken, und wegen der Schmerzen im Bauch sei alles noch viel langsamer gegangen. Nicht einmal die Zeit habe man ihm gelassen, seine Brille zu suchen. Alles mußte schnell gehen in dieser Nacht, in der es für die Jahreszeit zu warm und der Notruf wegen der vielen Kreislaufpatienten heillos überlastet war. Hilflos sei er gewesen und gefürchtet habe er sich, erzählte er uns, und er möchte so etwas unter keinen Umständen noch einmal erleben. Gestorben ist er im November, als die Krähen in der Dämmerung auf dem Areal der Klinik kreischend ihre Kreise zogen und dazwischen von den Bäumen schwatzten, was das Zeug hielt. Der Arzt, der ihn operierte, legte Wert auf die Feststellung, daß die Wunde gut verheilt sei. Und obwohl es ihm nach der Operation erstaunlich gut ging, erkrankte er bald danach an einer Lungenentzündung. Die starken Medikamente, die man ihm verabreichte, schwächten ihn enorm. Er hörte auf zu essen und zu trinken und mußte schließlich künstlich ernährt werden. Der Husten hatte ihm zuletzt das Atmen schwer gemacht, und irgendwann hat er auch beschlossen, für immer damit aufzuhören. Die Geschichte vom „Goldenen Wiener Herz“ Unter den Geschichten, „die nicht vergessen werden sollten“, war auch die vom „Goldenen Wiener Herz“, die Georg Rauchinger von Erna Modlik, der Frau des Trotzkisten Franz Modlik, nach 1945 erzählt worden war. „Als der Krieg begonnen hatte, mußte Franz Modlik einrücken. Die beiden hatten damals eine Wohnung in einem großen Gemeindebau, in Mödling, wo immer nur Arbeiter und Sozialdemokraten gewohnt haben. Es war ein Riesenkomplex, der noch vor dem Februar ‘34 errichtet worden war. Und dort gab es eine gemeinsame Waschküche. Einmal geht die Modlik aus der Wohnung und sieht eine Frau beim Fenster auf ihrem Gang stehen. Sie war über einen Wäschekorb gebeugt und schluchzte leise in sich hinein. Die Modlik geht zu ihr hin, sie kannte sie ja und wußte, daß sie eine Jüdin war, mit einem Arier verheiratet. Auf ihre Frage, was denn los sei, erzählt die Frau, daß sie, jedesmal wenn sie in die Waschküche geht, um dort ihre Wäsche zu waschen, mit einem Gebrüll und Gejohle empfangen wird: ‚Jetzt stinkt’s, jetzt kommt die Saujüdin’, und sie wird überhäuft mit den gemeinsten Schimpfwörtern, die man sich vorstellen kann. Eine schreit ‚Wenn ich die bin, dann hang’ i mi auf’, die andere: ‚Dann schenk’ i ihr den Strick’. Eine andere: ‚I war in der Partei, die ham gsagt wenn der Mann fällt, dann kommt sie glei ins KZ’, darauf alle im Chor: ‚Hoffentlich fällt er bald.’ Die Erna Modlik hat ihr den Korb abgenommen und ist von da an jedesmal ihre Wäsche waschen gegangen. Sie hat auch für sie eingekauft, denn sie war 13